Eine Stadt der Traurigkeit

Eine Stadt der Traurigkeit, auch Die Stadt der Traurigkeit (Originaltitel: chinesisch 悲情城市, Pinyin Bēiqíng Chéngshì, internationaler Titel: englisch A City of Sadness) ist ein taiwanischer Spielfilm von Hou Hsiao-Hsien aus dem Jahr 1989.

Die Familienchronik zeigt einen Abschnitt im Leben einer (fiktiven) einfachen Familie im ländlichen Taiwan ab 1945, deren Mitglieder zugleich Zeitzeugen einer bewegten Epoche waren. Der Zwischenfall vom 28. Februar 1947, bei dem zwischen 10.000 und 30.000 Zivilisten ums Leben kamen, war in Taiwan lange ein Tabuthema. Der zweieinhalb Stunden lange Film spielt eher in Innenräumen, die eigentlichen Vorfälle sind dabei nicht zu sehen.

Bei den Filmfestspielen von Venedig 1989 wurde Eine Stadt der Traurigkeit mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.

Handlung

Der Film beginnt mit der Radioansprache „Gyokuon-hōsō“ von Kaiser Hirohito zur Kapitulation Japans am 15. August 1945 und der Geburt des Sohnes von Wen-heung Lin während eines Stromausfalls (gedreht in Jiufen). Er wird den Namen Kang-ming (‚Licht‘) erhalten. Die Insel Taiwan war während der vergangenen 50 Jahre unter japanischer Herrschaft, bis die chinesische Kuomintang die Insel nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm.

Wen-heung Lin als ältester der vier Brüder der Familie Lin tauft sein vormals im japanischen Stil gehaltenes Lokal „Klein Shanghai“, um vom Aufschwung nach dem Krieg zu profitieren. Charakterlich lautstark und der angehende Patriarch, aber er ist auch der einzige, der das Grab der Mutter regelmäßig besucht. Bei einem Umtrunk sinnieren sie über die überholten Flaggen, die jetzt nur noch als Unterwäsche taugen, und sie singen am offenen Fenster. Der zweite Bruder gilt seit dem Krieg als auf den Philippinen vermisst. Der dritte Bruder, aus Shanghai zurückgekehrt und von einem Nervenzusammenbruch genesen, lässt sich mit Shanghaier Zigarettenschmugglern ein. Als der älteste davon Wind bekommt, nimmt er die meiste Ware an sich und verbietet ihm die unsauberen Geschäfte. Die Kriminellen spielen ihre militärischen Verbindungen gegen den dritten Bruder aus, der als japanischer Kollaborateur angeklagt und eingekerkert wird. Als Wen-heung die Streitigkeiten mit den Shanghaiern beilegt, kann der dritte Bruder entlassen werden, kehrt aber als körperliches und psychisches Wrack zurück. Der jüngste Bruder, Wen-ching, ist taubstumm und fotografiert gelegentlich und hofft auf ein Fotostudio. Im Unterschied zu seinen Brüdern ist er kein Analphabet.

Wen-ching und seine jungen Kameraden sind überzeugt, der Sozialismus könnte für die Taiwaner ein optimales Werkzeug sein, Kolonialisten zurückzudrängen. Festlandchinesen gegenüber kochen Ressentiments hoch, Japaner werden vertrieben. Im Hospital ist eine Radioansprache von Chen Yi zu hören. Das Blutvergießen des Zwischenfalls vom 28. Februar, der Umschwung in der allgemeinen sozialen Lage und die Teuerung prägen das Leben der Familie. Der taubstumme Wen-ching wird mit Freunden verhaftet. Die Schüsse der Exekution eines Zellengenossen hört er nicht. Er überbringt der Witwe später seinen letzten Willen. Sein bester Freund Hinoe musste aufgrund seiner oppositionellen Verbindungen in die Berge flüchten und sich der Guerilla anschließen. Wen-ching folgt ihm und möchte partizipieren, lässt sich aber überzeugen, in der Heimat zu bleiben und für Hinoes Schwester, die Krankenschwester Hinomi, zu sorgen.

Später stirbt der älteste Bruder in einem Kampf mit einem Kriminellen. Kurz nach dessen Beerdigung heiraten Wen-ching und Hinomi zeremoniell, indem sie sich am Familienschrein voreinander und vor den Vorfahren verbeugen, und bald bekommen sie einen Sohn. Sie erhalten einen Brief sehr traurigen Inhalts: wohl, dass Hinoes Kommune aufgeflogen ist und alle verhaftet wurden, oder Schlimmeres („Weißer Terror“).[2] Der technische Fortschritt und die entstehende Infrastruktur im neuen Land zeigen sich an der Eisenbahn. Der Film schließt 1949 mit einem pessimistischen Blick auf die kläglichen Überreste der Familie Lin, deren Kampf um den einfachsten Lebensunterhalt weitergehen wird. Der Großvater speist mit Wen-leung und den Jüngsten.

Die nationalchinesische Regierung geht wegen Mao nach Taipeh. Das Kriegsrecht bleibt in Kraft bis zum 15. Juli 1987.

Kritiken

Chen Cheng-po: Außerhalb der Chiayistraße. 1926, Öl auf Leinwand.

„Ein ebenso behutsam wie souverän entwickelter, facettenreicher ‚Heimatfilm‘, der weniger daran interessiert ist, die historischen Zusammenhänge zu rekonstruieren, als auf einfühlsame Weise deren Auswirkungen auf die Menschen und ihre Empfindungen bis in die Gegenwart darzustellen.“

„nicht leicht verständlich beim ersten Anschauen. […] nur zum Teil, weil er so spezifisch taiwanische Angelegenheiten behandelt […] Man muss nur seinen Metabolismus herunterkühlen, sich der Geschwindigkeit und den Bildern ergeben, und dem, was an Information auf der Leinwand ist. […Hou] erlaubt es dem Moment, aufzublühen“

Phillip Lopate: The New York Times[4]

„es gibt keine Höhepunkte […] Die Kamera zeichnet einfach auf […] Alles ist relevant“

Talking Pictures[5]

„[ein] Film, der unabhängig vom Zuschauer zu existieren scheint, geschlossen in seiner Beschwörung von Zeit und Ort.“

Kevin B. Lee: Reverse Shot[1]

„Eine fast hypnotische Präzision […] das genaue Gegenteil von verfilmter Historie. Geschichte fließt bei ihm als Summe von privaten Momenten und Stimmungen in die Bilder ein.“

Anke Leweke: Taz[6]

„Hou ist kein Propagandist des Allgemeinen, sondern ein detailsüchtiger Chronist des Besonderen. […] Bilder, die als atmosphärischer Nachklang wirken, wie eine Verwunderung darüber, daß alles fließt, vieles sich wiederholt […] Die poetische Aura des Einfachen entspringt in Hous Filmen seinem dramaturgischen Prinzip, die einzelnen Aufnahmen nicht in eine kontinuierliche Abfolge zu zwingen, sondern einfach für sich stehen zu lassen.“

Geschichte erkennt man nicht immer, wenn man sie sieht.“

Ara Osterweil: The Brooklyn Rail[8]

„Die Narration dieser Filme ist sehr stark de-dramatisiert […] eine höchst eigentümliche Mischung des Epischen und des Intimen […] Hous Fokus liegt immer auf den Menschen vor und über der Politik […] diese Leute sind im Herz der Geschichte und in dem des Films“

Adam Bingham: Cinetext[9]

Hintergründe

Die Produktion und vor allem der Erfolg des Films belebte die zeitweise nahezu vergessene Goldstadt Jiufen als Touristenattraktion wieder.[10]

Durchschnittliche Einstellungslänge (ASL): 43 Sekunden.[10][11] Es gibt keine einzige wirkliche Nahaufnahme in dem Film.[12] Wegen der Sprachvielfalt sehen auch Chinesen den Film mit Untertiteln.[1]

Hou hat nach eigener Einschätzung überhaupt nie den internationalen Markt im Auge gehabt.[13]

Welturaufführung war am 4. September 1989 auf den Filmfestspielen Venedig.[10] Erstaufführung in der Bundesrepublik Deutschland war am 26. März 1992, die Erstausstrahlung im Fernsehen fand am 17. Oktober 1995 auf 3sat statt.[3]

Der Taz sagte der Filmemacher: „Man trifft überall auf eine melancholische Grundstimmung, ob in den Familien oder auf den Straßen. Ohne dass man es merkt, hat man diesen traurigen Grundton einfach in den Knochen, wenn man in Taiwan aufgewachsen ist.“[6]

Auszeichnungen und Nominierungen

Internationale Filmfestspiele von Venedig 1989
Independent Spirit Awards 1991
  • Nominierung Independent Spirit Award in der Kategorie Best Foreign Film für Hou Hsiao-Hsien
Kinema Junpo Awards 1991
  • Kinema Junpo Award in der Kategorie Best Foreign Language Film für Hou Hsiao-Hsien
Mainichi Eiga Concours 1999
  • Preis in der Kategorie Best Foreign Language Film für Hou Hsiao-Hsien
Political Film Society 1990

Fünftbester chinesischer Film aller Zeiten bei den 24. Hong Kong Film Awards 2005.

Literatur

  • Berenice Reynaud: A City of Sadness. BFI Publishing, ISBN 978-0-85170-930-7.

Einzelnachweise

  1. Kevin B. Lee: A Cinema Beyond Us. In: Reverse Shot. Abgerufen am 1. Oktober 2008 (englisch): „a film that seems to exist independently of a viewership, self-contained in its own evocation of a specific time and place“
  2. vgl. Robin Wood: City of Sadness. In: Film Reference. Abgerufen am 18. Oktober 2008 (englisch): „The ending carries the withholding of information to its logical extreme“
  3. Eine Stadt der Traurigkeit im Lexikon des internationalen Films
  4. Phillip Lopate: FILM; A Master Everywhere Else Is Ready to Try America. In: The New York Times. 10. Oktober 1999, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 15. September 2017; abgerufen am 27. August 2021 (englisch): „not easy to grasp in one viewing. […] only partly because he dwells so specifically on Taiwanese matters. […] you need only slow down your metabolism and submit to the pace, the images, the information on screen. […] Mr. Hou […] allow the moment to flower“
  5. Howard Schumann: A City of Sadness. In: Talking Pictures. Talking Pictures, abgerufen am 27. September 2008 (englisch): „there are no peak moments […] The camera simply records […] Everything is relevant“
  6. Anke Leweke: Meister der totalitären Totalen. In: Taz. 10. August 2007, abgerufen am 26. September 2008.
  7. Norbert Grob: Geschichten einer fernen Gegenwart. In: Die Zeit. 10. Juli 1992, abgerufen am 1. Oktober 2008 (ZEIT ONLINE 29/1992 S. 42;46).
  8. Ara Osterweil: Remapping Hou Hsiao-Hsien. In: The Brooklyn Rail. 14. Februar 2009, abgerufen am 14. Februar 2009 (englisch): history ain’t like pornography: you don’t always know it when you see it“
  9. Adam Bingham: Cinema of Sadness: Hou Hsiao-hsien and 'New Taiwanese Film'. In: Cinetext. 1. November 2003, abgerufen am 26. September 2008 (englisch): „The narratives of these films are very much de-dramatized […] a highly idiosyncratic blend of the epic and the intimate […] Hou’s focus […] is always on the people over and above the politics. […] these people are at the heart of history as well as the film“
  10. IMDb, siehe Weblinks.
  11. Cinemetrics Database. In: cinemetrics.lv. Cinemetrics, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 28. November 2020; abgerufen am 3. Juni 2021 (englisch, zum Vergleich: A City of Sadness (1989) ASL: 43,3; 46,2; 46,4).
  12. Nornes/Yueh-yu, Kap. „Style: Long-shot / Close-up“, siehe Weblinks.
  13. Hou Hsiao-hsien, Lin Wenchi: In Search of New Genres and Directions for Asian Cinema. In: Rouge. 2003, abgerufen am 18. Oktober 2008 (englisch): „There was no way it could sell outside Taiwan, due to its complicated historical background […] Did I consider the international market then? Frankly speaking, no“
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