ESTW L90

Das ESTW L90 (auch bekannt als El L) ist ein elektronisches Stellwerk (ESTW) der Thales Group.

Geschichte

Als sich die zunehmende Bedeutung elektronischer Stellwerke in Deutschland abzeichnete, begann die damalige Standard Elektrik Lorenz AG (SEL) im Jahr 1978 die Entwicklung einer eigenen Bauform ESTW L90 (L für Lorenz).[1] Während die Herstellerfirmen von SEL, über Alcatel SEL bis zur Thales Group immer wieder wechselten, wurde die Produktbezeichnung ESTW L90 bis heute beibehalten.

Aufbau und Funktionsweise

Unterzentrale des ESTW L90 Fürstenberg/Havel

Im Jahr 1980 veröffentlichte das Bundesbahn-Zentralamt München rechtsverbindliche Grundsätze für die Zulassung von Sicherungsanlagen (Mü 8004)[2], aus welchen eindeutige Vorgaben für den Aufbau elektronischer Stellwerke hervorgingen.[3] Gepaart mit bedienungstechnischen Anforderungen, die der Hauptkunde Deutsche Bahn an die Hersteller elektronischer Stellwerke richtete, ergaben sich viele identische Entwicklungen und wenig Abweichungen unter Konkurrenten. Insbesondere die Bedienoberfläche der Stellwerke ist bis auf kleine Abweichungen identisch, um den Einsatz von Fahrdienstleitern auf elektronischen Stellwerken unterschiedlicher Hersteller ohne Fortbildungen zu ermöglichen.[4]

Das ESTW L90 arbeitet mit einem Vier-Ebenen-Modell, wobei die oberen drei Ebenen im elektronischen Stellwerk selbst (ESTW-UZ/ESTW-Z) angesiedelt sind, während sich die unterste Ebene in ausgelagerten Gebäuden in räumlicher Nähe zu den ferngesteuerten Betriebsstellen (ESTW-A) befindet.[4]

Externe Technik

Die oberste Ebene bildet die externe Technik, bestehend aus den Arbeitsplatzrechnern und zusätzlichen Bedarfsausrüstungen für das Stellwerk, wie z. B. eine Zugnummernmeldeanlage, eine Zuglenkung oder eine Schnittstelle für die linienförmige Zugbeeinflussung (LZB).

Bedienverarbeitungsebene

Die nächst niedrigere Ebene wird als Bedienverarbeitungsebene bezeichnet. Sie beherbergt mit dem Melde- und Eingabemodul (MEM) und dem Bildschirm-Modul (BM) zentrale Komponenten für die Verarbeitung der Eingaben des Bedieners und der Bereitstellung verfahrensgesicherter Anzeigen.

Sicherungsebene

Die vorletzte Ebene stellt als Sicherungsebene den Kern des ESTW L90 dar. Erst ab dieser Stufe überwachen Sicherungsmodule (SM) eingestellte Fahrstraßen und führen die Aufträge des MEM-Rechners aus, in dem sie Abhängigkeiten prüfen und Stellaufträge für bewegliche Fahrwegelemente (wie z. B. Weichen) und Signale an die untere Ebene senden. Während elektronische Stellwerke von Siemens geeignete Fahrwege vom Start- zum Zielpunkt mittels topologischer Fahrstraßentechnologie (Spurplanprinzip) selbstständig finden, greift das ESTW L90 auf die tabellarische Fahrstraßentechnologie (Verschlussplanprinzip) zurück. Aus diesem Grund müssen in der Projektierungsphase eines ESTW L90 alle für die Fahrstraßen erforderlichen Fahrwegelemente in der benötigten Stellung systematisch erfasst werden.[5] Ein Sicherungsmodul kann für mehrere Betriebsstellen zuständig sein.[4]

Stellebene

Die Stellebene, auch Feldebene genannt, stellt mit Element-Ansteuerungs-Modulen (EAM), welche sich in ausgelagerten Gebäuden in der Nähe der ferngesteuerten Betriebsstellen befinden, die Verbindung zwischen der Außenanlage und der Innenanlage des ESTW L90 her. Dieses Modul übernimmt keine Sicherheitsverantwortung und führt ausschließlich die Befehle des übergeordneten Sicherungsmoduls aus, erfasst die Zustände der angeschlossenen Fahrwegelemente und Signale und gibt sie an das Sicherungsmodul zurück. Anders als bei elektronischen Stellwerken von Siemens ist die Stell- bzw. Feldebene also deutlich von der Sicherungsebene getrennt.

Sicherheit

Aus Gründen der vereinfachten Wartbarkeit sollte zunächst eine Gemeinschaftsentwicklung mit der Siemens AG namens SIMIS („Sicheres Mikrocomputer-System“) als Sicherheitsbaustein dienen. Im Jahr 1983 entschieden beide Firmen, sich dem Wettbewerb zu unterziehen und unabhängig voneinander sichere Mikrocomputer zu entwickeln.[1] Während Siemens die Produktbezeichnung SIMIS (ab 1983 „Sicheres Mikrocomputer-System von Siemens“) auch für ihr gesamtes ESTW-Produkt übernahm (z. B. SIMIS C, SIMIS D), entwickelte SEL unter dem Namen SELMIS („SEL Mikrocomputer-System“) einen eigenen Sicherheitsbaustein, der sich im Gesamtgefüge mit dem ESTW L90 in der internen Funktionsweise und im Aufbau deutlich von SIMIS-Rechnern und SIMIS-Stellwerken unterscheidet. SEL setzte von Beginn an sowohl bei SELMIS-Rechnern als auch bei übrigen Stellwerkskomponenten auf marktübliche Computerhardware, die je nach Verwendungszweck von einer Sicherheitsschale umschlossen werden.[1] Die Sicherheit wird, ähnlich wie bei elektronischen Stellwerken von Siemens, durch zweikanalige Informationsverarbeitung gewährleistet.[1] SELMIS-Rechner vergleichen den Informationsfluss beider Kanäle jedoch mittels Software, während Siemens auf Hardwarevergleicher setzt.[6]

Literatur

  • Walter Jonas: Elektronische Stellwerke bedienen – Der Regelbetrieb. 2. Auflage. Bahn Fachverlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-943214-00-0.
  • Martin Weller: Das ESTW L90 im technologischen Wandel. In: Signal+Draht. Nr. 9. DVV Media Group, Hamburg 2002.

Einzelnachweise

  1. Ulrich Maschek: Analyse zur Gestaltung elektronischer Stellwerke. Hrsg.: TU Dresden, Fakultät für Verkehrswissenschaften „Friedrich List“. 5. Juni 1996, S. 23.
  2. Dipl.-Ing. Jörg Christoph May: Sicherheitsuntersuchung für einen innovativen Schienenverkehr am Beispiel fahrzeugautarker Ortung. Hrsg.: TU Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig. 4. Januar 2010, S. 69.
  3. Torsten Uhlig, Lars Wenzek: Migration des Zulassungsprozesses von Mü 8004 zu CENELEC am Beispiel des Achszählsystems ACS2000. In: Signal+Draht. Nr. 5. DVV Media Group, Hamburg 2006.
  4. Ulrich Maschek: Analyse zur Gestaltung elektronischer Stellwerke. Hrsg.: TU Dresden, Fakultät für Verkehrswissenschaften „Friedrich List“. 5. Juni 1996, S. 25.
  5. Ulrich Maschek: Analyse zur Gestaltung elektronischer Stellwerke. Hrsg.: TU Dresden, Fakultät für Verkehrswissenschaften „Friedrich List“. 5. Juni 1996, S. 102.
  6. Ulrich Maschek: Analyse zur Gestaltung elektronischer Stellwerke. Hrsg.: TU Dresden, Fakultät für Verkehrswissenschaften „Friedrich List“. 5. Juni 1996, S. 91.
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