Dragking
Als Dragking (in Anlehnung an Dragqueen) wird eine Frau bezeichnet, die innerhalb einer Bühnenrolle in typisch männlicher Kleidung und Aussehen stereotype männliche Verhaltensweisen darstellt oder persifliert. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Dragkings, die sich selbst in einem heteronormativen Kontext nicht als Frau verstehen oder selbst Männer sind, die bestimmte Arten der Männlichkeit, beispielsweise Machismus, überspitzt darstellen. Die Aktivität von Dragkings wird auch als Kinging bezeichnet. Das Kinging geschieht zum Teil auch im Alltag, zum Teil im geschützten Bereich einer subkulturellen Szene.[1] Der Begriff Drag stammt aus dem Englischen und bedeutet in diesem Zusammenhang Verkleidung oder Kostüm und bezieht sich auf das Tragen der Kleidung des jeweils anderen Geschlechts.[2]
Geschichte
Der Begriff Dragking taucht erstmals 1972 in der Literatur auf,[3] jedoch gibt es eine deutlich längere Tradition der Darstellung männlicher Rollen durch Frauen, insbesondere im Rahmen einer sogenannten Hosenrolle.[4] Beispiele hierfür sind Aal der Dragoner, der 1710 bei einer Schlägerei in Rotterdam zu Tode kam, die englische Dichterin und Schauspielerin Susanna Centlivre, die um 1700 als Mann auftrat,[5] die Amerikanerin Annie Hindle um 1870 und Sarah Bernhardt.
Als eine weitere Vorläuferin von Dragking-Performance gilt die jiddische Sängerin und Perfomerin Pepi Litman (1874–1930), die mit der Tradition jüdisch-säkularen Theater verbunden war, in dem Frauen in Männerkleidung wie zum Beispiel die Drag-Clownin Molly Picon (Yidl mitn Fidl) nicht selten waren.[6][7][8]
Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der US-amerikanischen Dragking-Szene war Stormé DeLarverie. Sie tourte von 1955 bis 1969 mit der Jewel Box Revue durch die Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko. DeLarverie war neben 25 Dragqueens das einzige weibliche Mitglied des Ensembles, das vor allem bei Familien eine hohe Popularität genoss.[9] DeLarverie sang in ihrer Rolle meist zeitgenössische Jazz- oder Blueslieder und fungierte zudem bei den Vorstellungen als Showmasterin. Das Publikum wurde auch dazu aufgerufen, die Identität der einzigen Künstlerin der Truppe zu erraten, was jedoch aufgrund DeLarveries maskulinem Erscheinungsbild beinahe nie gelang, weswegen sie sich schließlich am Ende jeder Vorstellung selbst zu erkennen gab.[10] Die Jewel Box Revue, die einzige ihrer Art, die bei der Zusammensetzung des Ensembles vollständig auf die damals vorherrschende Rassentrennung verzichtete,[11] galt zu DeLarveries Zeit als Leiterin aufgrund der hohen Qualität ihrer Showeinlagen als „erstklassig und umwerfend“[12] und wird in der Gegenwart als wichtiger, prägender Teil der US-amerikanischen Drag-Geschichte betrachtet, die von Dragqueens dominiert sei.[13]
Dragkings als Erscheinung einer speziellen kulturellen Szene haben ihre Ursprünge etwa Anfang der 1990er Jahre in der anglo-amerikanischen Lesbenszene.[14] Ein frühes filmisches Dokument einer solchen Dragking-Performance enthält der Spielfilm Die Jungfrauenmaschine von Monika Treut, der 1988 auf dem Internationalen Filmfestival Toronto uraufgeführt wurde. Die in San Francisco gedrehten Filmsequenzen enthalten eine gut vierminütige Stripshow aus der in dieser Zeit entwickelten one wo/man show[15] der Dragking Shelly Mars als Bühnenfigur Martin vor dem Publikum eines lesbischen Szeneclubs. Jenseits der Clubbühne und ihrer männlichen Bühnenfigur verkörpert Mars im Film die geheimnisvolle feminine Frau Ramona.[16]
Einen überraschenden und vielbeachteten Dragking-Auftritt hatte Popsängerin Lady Gaga als Jo Calderone bei den MTV Video Music Awards 2011. Jo Calderone weigerte sich während der gesamten Veranstaltung, sich als Lady Gaga anreden zu lassen und sorgte damit für Irritationen bei Presse und Publikum in Los Angeles. Presseberichten zufolge beließ es Jo Calderone nicht allein beim Bühnenauftritt, sondern benutzte darüber hinaus auch die Herrentoilette hinter der Bühne.[17]
Motivation
Dragkings der verschiedenen subkulturellen Dragking-Szenen sind meist als Frauen sozialisierte Menschen, die jedoch die Geschlechtszuweisung und Geschlechterrolle ihrer Sozialisation aus unterschiedlichen Gründen in Frage stellen. Die Performance als Dragking gibt ihnen die Möglichkeit, die Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit auszuloten, mit einer anderen Gestaltung von Geschlecht aktiv Erfahrungen zu sammeln und in einer Performance vor Publikum Geschlechternormen sichtbar und hinterfragbar zu machen.[1]
Manche Forscher unterscheiden zwischen Kinging und dem bloßen Imitieren maskuliner Verhaltensweisen oder dem Durchgehen bzw. Passing als Mann. Im 17. und 18. Jahrhundert trugen viele Frauen aus der Arbeiterschicht Männerkleidung und gaben sich als Mann aus, um Freiheiten zu erlangen, die Frauen in dieser Zeit nicht hatten, z. B. konnten als Mann verkleidete Frauen dem Militär beitreten und mehr Geld verdienen. Frauen wie Jeanne d’Arc und Christina von Schweden wurden häufig für Männer gehalten, doch unterschied sich ihr Durchgehen als Mann vom Kinging, weil Kinging eine bewusste Performanz von Männlichkeit ist, bei dem maskuline Charakteristika absichtlich überzeichnet werden.[18]
Kinging kann die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Norm der Zweigeschlechtlichkeit durch bewusst angewendete Mittel Männer und bestimmte Arten von Männlichkeit verkörpern. Die weithin als real gegeben aufgefasste Männlichkeit kann damit in ihrer ständigen sozialen Konstruktion innerhalb menschlicher Begegnungen sichtbar gemacht werden.[1]
Abgrenzung von Dragking – Transmann
In der Praxis lässt sich das Konzept Dragking nicht trennscharf von Transgeschlechtlichkeit abgrenzen, die Übergänge sind hier fließend. Zum einen überschneiden sich soziale Räume von Dragkings und Transmännern vielfach. Zum anderen zeigt die Erfahrung in den Szenen, dass bei einem Teil der Dragkings der Wunsch zu einer erneuten Vereindeutigung der Geschlechtsidentifikation herausbildet, wobei zum Teil auch Hormoneinnahmen oder geschlechtsangleichende Operationen zu Hilfe genommen werden.[20]
Überdies wird eine strenge Definition dieses Begriffs im Sinne wissenschaftlicher Autorität in der queer-theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Dragking vermieden. Damit wird der Veränderbarkeit und Offenheit des Begriffs und der Aneignung durch diejenigen Rechnung getragen, die ihn in den jeweiligen sozialen Räumen der Szenen zur Selbstdefinition verwenden, vergleichbar mit Begriffen wie queer oder transgeschlechtlich.
Filme
- Man for a Day von Katarina Peters, 2012, 96 min, Dokumentarfilm über den Drag-King-Workshop der New Yorker Performance-Künstlerin Diane Torr[21]
- Venus Boyz von Gabriel Baur, 2001, 104 min, Dokumentation der internationalen Drag-King-Szene.[22]
Filme, die Sequenzen mit Drag-King-Performances enthalten:
- Yes, We Are von Magda Wystub[23] (Idee/Regie/Schnitt) und Katrina Schaffer (Kamera), Polen/Deutschland 2011, 69 min, Dokumentarfilm über Widerstandsformen im Kampf um lesbische Sichtbarkeit und Anerkennung in Polen.
- Gendernauts – eine Reise durch das Land der Neuen Geschlechter von Monika Treut, Deutschland 1999, 86 min, Dokumentation.
- Die Jungfrauenmaschine von Monika Treut, Deutschland 1988, 84 min, Spielfilm.
- Die Rosen von Versailles (Berusaiyu no Bara), Mangaserie.
Literatur
- Lauren Wells Hasten: Gender Pretenders: A Drag King Ethnography. Department of Anthropology, Columbia University in the City of New York. Februar 1999, Online.
- Uta Schirmer: Geschlecht anders gestalten. Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten. (Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss.) Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1345-2.Buchinfo (PDF; 239 kB)
- Nina Schuster: Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender. (Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 2010) Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1545-6.
- Pia Thilmann, Tania Witte & Ben Rewald (Hrsg.): Drag Kings. Mit Bartkleber gegen das Patriarchat. Querverlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-89656-142-8.Buchinfo
- Donna Jean Troka, Kathleen LeBesco, Jean Bobby Noble (Hrsg.): The Drag King Anthology. Haworth Press, New York/London/Oxford 2003, ISBN 978-1-56023-309-1.
- Del LaGrace Volcano, Judith Halberstam: The Drag King Book. Serpent’s Tail, London 1999, ISBN 978-1-85242-607-1.
- Judith Halberstam: Drag Kings: Masculinity and Performance. (1998) In: Ken Gelder, Sarah Thornton (Hrsg.): The Subcultures Reader. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage, Taylor & Francis, 2005, S. 400–421, ISBN 978-0-415-34416-6.
- Judith Halberstam: Female masculinity. Duke University Press, 1998, S. 231–266, ISBN 978-0-8223-2243-6.
- Jana Katz, Martina Kock, Sandra Ortmann, Jana Schenk, Tomka Weiss: Sissy Boyz. Queer Performance. Schriftenreihe queer lab, Band 3. thealit, Bremen 2011, ISBN 978-3-930924-19-6.
- Jeffrey Shandler: Queer Yiddishkeit: Practice and Theory. In: Shofar, Vol. 25, No. 1, Beyond Klezmer: The Legacy of Eastern European Jewry, Purdue University Press, 2006, S. 90–113.
Weblinks
Zeitschriften-/Zeitungsartikel:
- emma.de: Sexualität und Identität: Sind Drag Kings die besseren Verführer? (Memento vom 12. Juli 2010 im Internet Archive) Jack Halberstam in EMMA 6/1999.
- Die Wochenzeitung: Die Macht der Drag Kings. Eine Lektion in Patriarchat. Nr. 46, 15. November 1996. (PDF; 744 kB)
Videos Dragking-Workshops:
- an.schläge tv: drag king workshop. Wien 2011, 16 min
- Genderfuck Workshop der Sissy Boyz; Ladyfest Wien 2005, YouTube, 3 min
Videos Auftritte/Performances:
- Auftritt und Interview der Sissy Boyz beim Ladyfest Wien 05; TV-Bericht in an.schläge tv (5:28 min – 8:46 min)
Einzelnachweise
- Nina Schuster: Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender. (Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 2010) Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1545-6. S. 15
- Merriam-Webster: Drag, Abschnitt 7 a/b. Abgerufen am 4. Januar 2011
- Bruce Rodgers: The queens' vernacular: a gay lexicon. Straight Arrow Books, 1972
- Laurence Senelick: The changing room: sex, drag and theatre. Routledge, 2000, ISBN 978-0-415-15986-9
- Mary Pix, Melinda Finberg: Eighteenth-century women dramatists. Oxford University Press, 2001, S. XVIII, ISBN 978-0-19-282729-6
- Jiddisch heute: Junge Jiddisch-Sprecher*innen im Interview. Jüdisches Museum München, 22. September 2021, abgerufen am 25. März 2024 (deutsch).
- Amanda (Miryem-Khaye) Seigel. In: Digital Jiddish Theatre Project. 24. März 2024, abgerufen am 25. März 2024 (englisch).
- Julia Metraux: How Queer Jews Reclaimed Yiddish. 5. Juni 2022, abgerufen am 25. März 2024 (amerikanisches Englisch).
- Elyssa Goodman: Drag Herstory: A Drag King’s Journey From Cabaret Legend to Iconic Activist. In: Them. 29. März 2018, abgerufen am 9. November 2020 (englisch).
- Esther Newton: Margaret Mead Made Me Gay. Duke University Press, Durham 2000, ISBN 0-8223-2612-4, S. 63. Diane Middlebrook: Suits Me: The Double Life Of Billy Tipton. Houghton Mifflin Harcourt, Boston 1998, ISBN 1-86049-763-2, S. 217–218. St. Sukie de la Croix: Chicago Whispers: A History of LGBT Chicago before Stonewall. University of Wisconsin Press, Madison 2012, ISBN 978-0-299-28693-4, S. 150.
- Grace Chu: From the Archives: An interview with Lesbian Stonewall Veteran Stormé DeLarverie. In: AfterEllen. 5. Juni 2018, archiviert vom (nicht mehr online verfügbar) am 23. Dezember 2014; abgerufen am 9. November 2020 (englisch). Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Shereen Marisol Meraji, Gene Demby: They Don’t Say Our Names Enough. In: National Public Radio. 27. Juni 2020, abgerufen am 10. Dezember 2020 (englisch).
- Katie Horowitz: Drag, Interperformance, and the Trouble with Queerness. Routledge, Oxfordshire 2019, ISBN 978-0-429-83030-3, Kapitel Kinging.
- Judith Schönenberger: Visuelle Strategien von Drag Kings im medialen Kontext. Theoretische Diplomarbeit, Zürcher Hochschule der Künste, 2008, S. .3. (PDF; 792 kB)
- Del LaGrace Volcano, Judith Halberstam: The Drag King Book. Serpent’s Tail, London 1999, ISBN 978-1-85242-607-1, S. 67.
- hyenafilms.com: DIE JUNGFRAUENMASCHINE. Besetzung. (abgerufen am 4. Oktober 2010).
- showbiz.de: Lady Gaga beeindruckte bei den ‘VMAs’ als Jo Calderone. 31. August 2011. Abgerufen am 25. September 2011. (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Oktober 2022. Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Maite Escudero-Alías: Long Live the King: A Genealogy of Performative Genders. Cambridge Scholars Publishing, Cambridge 2009, ISBN 978-1-4438-0216-1, S. 61.
- New York Times: THEATER; Meet Downtown's New "It" Boy. 9. Januar 2005. Abgerufen am 3. Januar 2011.
- Nina Schuster: Andere Räume. Soziale Praktiken der Raumproduktion von Drag Kings und Transgender. (Zugl.: Marburg, Univ., Diss., 2010) Transcript, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-8376-1545-6. S. 15f
- salzgeber.de: Presseheft für Man for a day. S. 2 (Memento des vom 16. Mai 2012 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 587 kB) Abgerufen am 27. November 2012.
- Die Wochenzeitung Online: Frauen sind bessere Männer. Gabriel Baur dokumentiert mit «Venus Boyz» die internationale Drag-King-Szene. 28. Februar 2002. (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im Dezember 2023. Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Magda Wystub im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek