Dora Richter

Dora Rudolfine Richter, genannt „Dorchen“ (* 16. April 1892 in Seifen, Österreich-Ungarn als Rudolf Josef Richter; † nach 1939), war die erste namentlich bekannte Person, die sich einer kompletten Geschlechtsangleichung (von Mann zu Frau) samt Vaginoplastik unterzog.[1] Sie war eine von mehreren transsexuellen bzw. Transgender-Personen in der Obhut von Magnus Hirschfeld am Berliner Institut für Sexualwissenschaft in den 1920er und frühen 1930er Jahren.[2]

Leben

Dora Richter wurde 1892 im böhmischen Erzgebirge in eine arme Bauernfamilie geboren[3][4] und am 17. April 1892 auf den Namen Rudolf Josef Richter römisch-katholisch getauft. Ihr Vater war laut Kirchenbuch der Musiker Josef Richter und ihre Mutter Antonia Richter geb. Kraus.[5] Schon seit früher Kindheit zeigte sie „die Neigung zum weiblichen Tun und Treiben“.[1] Im Alter von 6 Jahren versuchte sie, ihr männliches Geschlechtsteil mit einem Tourniquet zu entfernen.[6] Sie begann Mädchen- bzw. Frauenkleidung zu tragen, nannte sich Dora und lebte, soweit sie konnte, als Frau. Wegen der strengen Gesetze der Zeit war sie jedoch zunächst zu einem Doppelleben gezwungen: Während der Sommersaison arbeitete sie als Kellner unter ihrem männlichen Geburtsnamen in Berliner Hotels, lebte jedoch den Rest des Jahres als Frau. Mehrfach wurde sie eingesperrt, weil sie Kleidung „des anderen Geschlechts“ trug, und war dann gezwungen, ihre Strafe in Männergefängnissen abzubüßen, bis sie von einem Richter in die Obhut von Magnus Hirschfeld entlassen wurde.[6]

Hirschfeld erwirkte für sie eine besondere polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen, und da es sonst fast unmöglich war als „Transvestit[Anm. 1] eine Anstellung zu bekommen, stellte er sie zusammen mit einigen anderen Transgender-Personen als Hausangestellte am Institut für Sexualwissenschaft ein; dort wurde sie liebevoll „Dorchen“ genannt.[6] Im Jahr 1922 unterzog sie sich einer selbst gewünschten Orchiektomie (Entfernung der männlichen Keimdrüsen). Felix Abraham, ein am Institut tätiger Psychiater, veröffentlichte Richters Geschlechtsangleichung als Fallstudie: „Die Kastration hat sich, wenn auch nicht weitgehend, so ausgewirkt, daß der Körper voller wurde, der Bartwuchs nachließ, Brustansatz sich bemerkbar machte und auch das Fettpolster des Beckens… weiblichere Formen annahm.“[7][1]

Im Juni 1931 ließ Dora Richter eine Penektomie vom Institutsarzt Ludwig Levy-Lenz und von Felix Abraham durchführen. Der Berliner Chirurg Erwin Gohrbandt (1890–1965) schuf eine künstliche Vagina.[7][1] Dadurch wurde sie zur ersten namentlich bekannten transsexuellen Frau, die eine echte Vaginoplastik erhielt; einige Monate vor der bekannteren Lili Elbe.

Der wachsende nationalsozialistische Einfluss in Deutschland veranlasste Hirschfeld, aus dem Land zu fliehen. Im Mai 1933 griff ein Mob von Nazis das Institut an und verbrannte all seine Aufzeichnungen.[6] Am 20. April 1934 wurde Dorchen Richters Antrag auf Namensänderung vom 26. Februar 1934 durch den Landespräsidenten Prag stattgegeben und ihr Name wurde offiziell in Dora Rudolfine Richter (tschechisch: Dora Rudolfa Richterová) geändert, auch wenn die Änderung des diesbezüglichen Matrikeleintrags erst 1946 erfolgte.[8]

Laut ihrer Freundin, der deutsch-amerikanischen Schauspielerin Charlotte Charlaque, die sich wie Richter um 1930 in Berlin geschlechtsangleichenden Maßnahmen unterzogen hatte, kehrte Richter nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten als Köchin in ihre böhmische Heimat zurück.[9] Nach Unterlagen der Volkszählung im Deutschen Reich 1939 lebte sie Ende der 1930er Jahre wieder in ihrem Geburtsort Seifen (heute Ryžovna).[10] Über ihren weiteren Lebensweg ist nichts bekannt.

Ludwig Levy-Lenz erinnerte sich an Dora Richter und die anderen vier „transvestitischen“ Dienstmädchen des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft (unter ihnen wohl auch Charlotte Charlaque und die Malerin Toni Ebel): „… ich werde den Anblick nie vergessen, der sich mir bot, als ich einmal nach Feierabend in die Küche des Hauses verschlagen wurde: Da saßen die fünf ‚Mädchen‘ strickend und nähend friedlich nebeneinander und sangen gemeinsam alte Volkslieder. Jedenfalls war es das beste, fleißigste und gewissenhafteste Hauspersonal, das wir je gehabt haben. Niemals hat ein Fremder, der uns besuchte, etwas davon gemerkt …“.[1][7]

Im Spielfilm Der Einstein des Sex, einem Filmdrama von Rosa von Praunheim über Magnus Hirschfeld aus dem Jahr 1999, wird Dora Richter von Tima der Göttlichen gespielt.[11]

Literatur

  • Felix Abraham: „Genitalumwandlung an zwei männlichen Transvestiten“. In: Zeitschrift für Sexualwissenschaft 18, 1931, S. 223–226
  • Rainer Herrn: „Vom Geschlechtsumwandlungswahn zur Geschlechtsumwandlung“, in: Pro Familia Magazin 23(2), 1995, S. 14–18.

Einzelnachweise

  1. Harald Rimmele: Biographie von Dorchen Richter, zuletzt abgerufen am 15. Februar 2018.
  2. E. Mancini: Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom: A History of the First International Sexual Freedom Movement, Google Books: S. 70, abgerufen am 15. Februar 2018.
  3. A Puzzle Piece for the Trans* History – Dora Richter’s Baptism Record Found. In: lili-elbe.de. Abgerufen am 29. Oktober 2023.
  4. Edward Ball: Peninsula of Lies: A True Story of Mysterious Birth and Taboo Love. Simon and Schuster, 2010, ISBN 978-1-4516-0371-2, S. 89.
  5. Seifen, Taufmatrik III, S. 109.
  6. Dorchen's Day – Providentia. In: drvitelli.typepad.com. 5. Dezember 2010, abgerufen am 3. Februar 2016.
  7. A Trans Timeline – Trans Media Watch. In: Trans Media Watch. Abgerufen am 3. Februar 2016.
  8. 21. April 2023 lilielbe In böhmischen Dörfern – Dora Richters Taufeintrag gefunden. In: Lili-Elbe-Bibliothek. 21. April 2023, abgerufen am 7. Juni 2023.
  9. Carlotta Baronin von Curtius: Reflections on the Christine Jorgenson Case. In: One. The Homosexual Magazine. Band 3, 1955, S. 27–28.
  10. Neues von der trans Pionierin Dora Richter. In: Lili-Elbe-Bibliothek bei Twitter. Abgerufen am 29. Oktober 2023.
  11. Der Einstein des Sex. In: viennale.at. Abgerufen am 22. Februar 2023.

Anmerkungen

  1. Dorchen Richter war in Wirklichkeit transsexuell, aber der Terminus „Transvestit“ wurde von Hirschfeld bereits 1910 eingeführt (in „Die Transvestiten“, 1910), und war zunächst geläufiger. Den Terminus transsexuell verwendete er zum ersten Mal 1923.
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