Die beiden Wanderer

Die beiden Wanderer ist ein Märchen (ATU 613). Es steht in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ab der 5. Auflage von 1843 an der Stelle 107 (KHM 107).

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909

Inhalt

Ein leichtherziger Schneider und ein griesgrämiger Schuster wandern zusammen. Der Schneider verdient mehr Geld, weil die Leute ihn mögen, und teilt gerne mit dem neidischen Schuster. Durch den Wald zur Königsstadt führen ein Weg von zwei Tagen und einer von sieben. Weil sie nicht wissen, welcher der richtige ist, kauft der Schuster sich für sieben Tage Brot, der Schneider aber nur für zwei. Als sie am dritten Tag noch nicht ankommen und der Schneider am fünften vor Hunger nicht mehr weiter kann, gibt ihm der Schuster ein Stück Brot, sticht ihm aber dafür ein Auge aus. Dies wiederholt sich am siebten Tag. Nach dem Wald lässt der Schuster den blinden Schneider unter einem Galgen liegen. In der Dämmerung spricht ein Gehängter mit einer Krähe auf dem Kopf zum anderen, dass wieder sehen kann, wer sich mit dem Tau wäscht. So geht es dem Schneider in Erfüllung. Er dankt Gott. Unterwegs begegnet er einem braunen Fohlen, das er reiten will, einem Storch, jungen Enten und einem Bienenstock mit Honig, die er essen will, lässt sich aber immer von den Tieren zur Gnade bewegen. In der Stadt ist er bald für seine Fähigkeiten berühmt und wird Hofschneider. Sein ehemaliger Kamerad, der Hofschuster, will ihn unschädlich machen. Er erzählt dem König einmal, der Schneider habe sich vermessen, die vermisste Krone wiederzubeschaffen, dann, das Schloss in Wachs abzubilden, im Schlosshof Wasser sprudeln zu lassen und dem König einen Sohn besorgen zu können. Der König droht dem Schneider mit Verbannung, Kerker und Tod, wenn er es nicht tue, doch ihm helfen die Enten, die Bienen, das Pferd und der Storch. Zu seiner Hochzeit mit der ältesten Königstochter muss ihm der Schuster Schuhe machen und die Stadt verlassen. Er wirft sich vor Wut und Erschöpfung unter dem Galgen hin. Die Krähen hacken ihm die Augen aus, und er rennt in den Wald.

Sprache

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909

Die Erzählung verwendet zur treffenden Charakterisierung der Personen viele Redensarten, von denen einige auch heute in Gebrauch sind: „Springinsfeld“; „Lass dir darüber keine grauen Haare wachsen“. Auch die rührselige Schilderung mit vielen christlichen Bezügen unterscheidet sich vom schlichteren Erzählstil früherer Ausgaben. Der zentrale Konflikt wird schon im Einleitungssatz ausgedrückt: „Berg und Tal begegnen sich nicht, wohl aber die Menschenkinder, zumal gute und böse.“[1] Der Satz steht schon im Barockroman Der abenteuerliche Simplicissimus, den die Brüder Grimm geschätzt haben dürften: Simplicissimus trifft seinen Kamerad, den Schreiber wieder, der ihn einst aus Neid beim König anschwärzte.[2]

Herkunft

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909

Grimms Anmerkung notiert: „Nach einer Erzählung aus dem Holsteinischen“ (vom Studenten Mein aus Kiel), die „besser und vollständiger“ sei als Die Krähen in früheren Auflagen (das kürzer, im Galgenmotiv ähnlich ist). Sie vergleichen Paulis Schimpf und Ernst, wo ein am Baum gefesselter Diener von Geistern erlauscht, dass ein Kraut sehend macht, und eine Prinzessin heilt, während seinem Herrn dann die Augen ausgestochen werden, sowie die „Braunschweiger Sammlung“ (Feen-Mährchen, Braunschweig 1801, Nr. 7), Helwigs jüdische Legenden Nr. 23, der Rat der Vögel an Sigurd (Fáfnismál „und Anmerk. zu Str. 32“), zum heilenden Tau den Speichel, womit Gott heilt oder unschuldiges Kinder- oder Jungfrauenblut (Altdeutsche Wälder 2, 208 und Der arme Heinrich S. 175 ff.), „Braunschweiger Sammlung“ S. 168–180, Aurbachers Büchlein für die Jugend S. 252–263, Pröhles Märchen für die Jugend Nr. 1, dänisch bei Molbech Nr. 6, norwegisch bei Asbjörnsen Bd. 2, böhmisch bei Gerle Bd. 1, Nr. 7 St. Walpurgis Nachttraum oder die drei Gesellen, ungarisch bei Gaal Nr. 8 „die dankbaren Thiere“, Mailath Nr. 8 „die Brüder“, Stier S. 65 „die drei Thiere“, serbisch bei Wuk Nr. 16. Der persische Dichter Nisami erzählt (in Hammers Geschichte der schönen Redekünste Indiens, Wien 1818, S. 116 f.) von Chair, der von Scheer verräterisch beraubt, geblendet und misshandelt, von einem kurdischen Mädchen geheilt wird, die Sultanstochter heilt und schließlich Scheer wiederbegegnet, den dann ein Kurde tötet.

Lothar Bluhm vermutet, dass der Text auf Die wahrsagenden Vögel aus der Sammlung Feen-Mährchen von 1801 zurückgehen könnte, bei Grimm nur anonymisierend als Braunschweiger Sammlung genannt, und möglicherweise indirekt auf Johannes Paulis Schwanksammlung Schimpf und Ernst von 1522. In dem reichhaltigen Sprachschatz sei Grimms Student Mein möglicherweise bereits durch Grimms Märchen beeinflusst.[3]

Laut Hans-Jörg Uther liegt das Märchen in unzähligen Varianten vor, auf einem altägyptischen Papyrus als Rechtsstreit, in buddhistischen Schriften des 8. Jahrhunderts als Erzählung der Brüder Gut-Tat und Schlecht-Tat, im Mittelalter als Wettstreit zwischen Wahrheit und Falschheit oder um die rechte Religion. Die Blendung ist im Mittelalter meist Preis der verlorenen Wette, so in Pelbart von Temeswars Exempelsammlung Sermones Pomerii de tempore, in neuzeitlichen Fassungen pure Bosheit.[4] Vgl. Bechsteins Schneider Hänschen und die wissenden Tiere, ferner zu den Aufgaben Grimms Die Bienenkönigin oder Basiles Der Drache.

Interpretation

Illustration von Otto Ubbelohde, 1909

Edzard Storck bemerkt die Schicksalsbejaung des Helden (Mt 5,25 , Mt 6,33 ). Die Krone sei das Gott-Königtum des paradiesischen Menschen, das Wachs Weisheit wie in Platons Theaitetos (Kap. 34), drittens quillt Wasser der Weisheit (Joh 7,38 ), was dem niederen Ich aberkannt wird (Joh 8,35 , Joh 9,39 ).[5] Ortrud Stumpfe meint, die Wahrnehmung der Zusammenhänge gelingt erst durch das Auslöschen des Eigenwillens, des Egoismus.[6]

Schneider und Schuster stehen in Märchen oft für Leichtmut und Geiz. Ulla Wittmann deutet erst objektal den Schneider als produktiven Charakter (nach Erich Fromm) oder genitalen Charakter, ungepanzerten Menschen (Wilhelm Reich) mit Vertrauen, Mitleid und Fähigkeiten, den Schuster als unproduktiven Charakter und Sadisten mit Machthunger und Angst. Subjektal ist der Schuster der Schatten des Helden, dem ja Planung und Vorsorge fehlen, die Königsstadt Symbol für die Ganzheit des Selbst, auch die Vierzahl der Tiere, der Aufgaben oder der Kostbarkeiten Krone, Quell, Schloss und Kind (Jung).[7] Für Psychiater Wolfdietrich Siegmund geht es in Die beiden Wanderer um Annahme oder Verweigerung unseres Reifeweges.[8]

Literatur

  • Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. Mit 184 Illustrationen zeitgenössischer Künstler und einem Nachwort von Heinz Rölleke. Artemis & Winkler Verlag / Patmos Verlag, 19. Auflage, Düsseldorf / Zürich, 1999, ISBN 3-538-06943-3, S. 518–528.
  • Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen Auflagen veröffentlichter Märchen und Herkunftsnachweisen herausgegeben von Heinz Rölleke. Band 3: Originalanmerkungen, Herkunftsnachweise, Nachwort. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Reclam, Stuttgart 1994, ISBN 3-15-003193-1, S. 200–201, S. 487
  • Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 239–242.
  • Lothar Bluhm: Die Erzählung von den beiden Wanderern (KHM 107). Möglichkeiten und Grenzen der Grimm-Philologie. In: Helga Bleckwenn (Hrg.): Märchenfiguren in der Literatur des Nord- und Ostseeraumes. Baltmannsweiler 2011, ISBN 978-3-8340-0898-5, S. 5–31.
  • Lothar Bluhm: „Wo ist denn der Lohn für deine Barmherzigkeit und Gerechtigkeit?“. Zur exempelliterarischen Tradition der Grimm’schen Märchenerzählung "Die beiden Wanderer" (KHM 107). In: Kreuz- und Querzüge. Beiträge zu einer literarischen Anthropologie. Fs. für Alfred Messerli. Hrsg. v. Harm-Peer Zimmermann, Peter O. Büttner und Bernhard Tschofen. Hannover: Wehrhahn, 2019, ISBN 978-3-86525-730-7, S. 319–336.
Wikisource: Die beiden Wanderer – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 239–240.
  2. Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Abenteuerlicher Simplicius Simpliciccimus. Goldmann, München, S. 289.
  3. Lothar Bluhm: Die Erzählung von den beiden Wanderern (KHM 107). Möglichkeiten und Grenzen der Grimm-Philologie. In: Helga Bleckwenn (Hrg.): Märchenfiguren in der Literatur des Nord- und Ostseeraumes. Baltmannsweiler 2011, ISBN 978-3-8340-0898-5, S. 21–24, 26–27.
  4. Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. de Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-019441-8, S. 239–242.
  5. Edzard Storck: Alte und neue Schöpfung in den Märchen der Brüder Grimm. Turm Verlag, Bietigheim 1977, ISBN 3-7999-0177-9, S. 285–290.
  6. Ortrud Stumpfe: Die Symbolsprache der Märchen. 7. Auflage. Aschendorff, Münster 1992, ISBN 3-402-03474-3, S. 171.
  7. Ulla Wittmann: „Ich Narr vergaß die Zauberdinge.“ Märchen als Lebenshilfe für Erwachsene. Ansata-Verlag, Interlaken 1985, ISBN 3-7157-0075-0, S. 27–38.
  8. Frederik Hetmann: Traumgesicht und Zauberspur. Märchenforschung, Märchenkunde, Märchendiskussion. Mit Beiträgen von Marie-Louise von Franz, Sigrid Früh und Wolfdietrich Siegmund. Fischer, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-596-22850-6, S. 122.
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