Die Leute von Seldwyla

Die Leute von Seldwyla ist ein zweiteiliger Novellenzyklus des Schweizer Dichters Gottfried Keller. Die ersten fünf Novellen, Teil I, schrieb Keller 1853–1855 in Berlin nieder; sie erschienen 1856 im Vieweg Verlag. Weitere fünf, Teil II, entstanden in mehreren Schüben zwischen 1860 und 1875, d. h. größtenteils während Kellers Amtszeit als Staatsschreiber in Zürich. Das gesamte Werk erschien 1873–1875 in der Göschen’schen Verlagsbuchhandlung. Es umfasst zehn „Lebensbilder“ (so der Arbeitstitel während der Berliner Entstehungszeit), die durch einen gemeinsamen Schauplatz, die fiktive Schweizer Stadt Seldwyla, zusammengehalten werden. Bis auf „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, eine Adaption der Shakespearschen Tragödie, sind die Seldwyler Geschichten Komödien in Novellenform mit stark satirisch-groteskem Einschlag. Die Leute von Seldwyla gilt als Meisterwerk der deutschsprachigen Erzählkunst des 19. Jahrhunderts und als repräsentativ für die Stilrichtung des poetischen Realismus. Zwei der Novellen, „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ und „Kleider machen Leute“, gehören zur Weltliteratur und den meistgelesenen Erzählungen der deutschsprachigen Literatur. Sie dienten mehrfach als Vorlage für Filme und Opern, wurden in viele Sprachen übersetzt und sind in einer kaum überschaubaren Zahl von Ausgaben verbreitet.

Titelblatt des Erstdrucks (1856)
Verlagsanzeige mit der Ankündigung der erweiterten Ausgabe (1873)

Inhalt von Teil I

Einleitung

Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen irgendwo in der Schweiz. Sie steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Türmen wie vor dreihundert Jahren und ist also immer das gleiche Nest; die ursprüngliche tiefe Absicht dieser Anlage wird durch den Umstand erhärtet, daß die Gründer der Stadt dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angepflanzt, zum deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie gelegen, mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen sind, so daß wohl die Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen gedeiht auch ein ziemlich guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen unabsehbare Waldungen sich hinziehen, welche das Vermögen der Stadt ausmachen; denn dies ist das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß die Gemeinde reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß kein Mensch zu Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich leben.[1]

Mit dieser satirischen Schilderung leitet Keller die Charakteristik seiner Seldwyler ein: Sie sind fast schon südländisch temperamentvoll, stets lustig und zu Vergnügungen aufgelegt und nicht wenig leichtsinnig. Was ihnen fehlt, ist Sparsamkeit, Zielstrebigkeit und ausdauernder Gewerbefleiß. Lieber lassen sie andere Leute für sich arbeiten, spekulieren mit Wertpapieren und leben auf Borg. Doch das Paradies des Kredits steht ihnen nur offen, solange sie jung sind. So bildet die Jugend bis Mitte dreißig den eigentlichen Kern und den Glanz des Volkes. Danach, wenn bei anderen die fruchtbringenden Jahre beginnen, sind die Seldwyler fertig (zahlungsunfähig), führen als Falliten (Bankrotteure) ein Schattendasein und lernen nachträglich arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von tausend kleinen Dingen, für die man nicht ausgebildet ist. So verdienen sie leidlich ihr Brot und nehmen an den Lustbarkeiten der im Flor stehenden Mitbürger nur noch als Zaungäste teil. Die Tüchtigsten aber verlassen die Stadt, treten nach Schweizer Tradition in fremde Kriegsdienste oder ziehen abenteuernd durch ferne Länder, sodass man in den verschiedensten Weltteilen Seldwyler treffen kann, die sich alle dadurch auszeichnen, daß sie sehr geschickt Fische zu essen verstehen, in Australien, in Kalifornien, in Texas wie in Paris oder Konstantinopel.

In ihren vielen Wirtshäusern betreiben die Seldwyler neben Kegeln und Kartenspiel auch die Politik mit Leidenschaft, besonders zu Zeiten der Kreditklemme, und wenn der Ruf nach Verfassungsänderung von Seldwyla ausgeht, so weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld zirkuliert. Da sie die Abwechslung lieben, fühlen sie sich in der Opposition am wohlsten. Sind im Lande gerade Fortschrittsleute am Ruder, so scharen sie sich um den frommen Stadtpfarrer, über den sie sonst spötteln; sind es Konservative, halten sie sich zum radikalen Schullehrer; sind es liberale Juristen und Geldmänner, so stimmen sie für den nächstbesten Sozialisten. Doch wenn sie mit ihren Umtrieben der Landesmehrheit allzu sehr auf die Nerven fallen, setzt die Regierung ihnen eine Finanzprüfungskommission ins Rathaus, worauf sie eine Weile Ruhe geben.

Am wenigsten taugen die Seldwyler, wenn ihr neuer Wein gärt, am meisten, wenn sie aus ihrem gemütlichen Lumpennest herausgerissen und auf sich gestellt sind. Damit ist der Erzähler bei seinem Programm: In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an allerhand seltsamen Geschichten und Lebensläufen nicht fehlen, da Müßiggang aller Laster Anfang ist. Doch nicht die gewöhnlichen Begebenheiten hält er für merkwürdig und erzählenswert, sondern einige sonderbare Abfällsel, wie sie allerdings nur zu Seldwyla vor sich gehen konnten.

Pankraz, der Schmoller

Der Offizier von Algier kommt heim, Radierung von Kellers Jugendfreund Johann-Salomon Hegi

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Gleich die erste Geschichte handelt von einem Ausreißer. Der junge Pankraz weiß in Seldwyla nichts mit sich anzufangen und quält seine arme Mutter und Schwester mit ständigem Beleidigtsein. Mit vierzehn läuft er davon, wird Soldat in der britischen Kolonialarmee, bewährt sich und verlernt das Schmollen. Als er sich jedoch in die Tochter seines Vorgesetzten verliebt, Lydia, eine schöne, aber hinterhältige Salonlöwin, erleidet er einen Rückfall. Schmollend verlässt er Indien, tritt in den Dienst der französischen Fremdenlegion und bringt es in Algerien zum Oberst. Mit siebenunddreißig Jahren kehrt er zurück, sonnenverbrannt und eine Löwenhaut im Gepäck. Er erzählt Mutter und Schwester von Lydia und wie er unter Lebensgefahr zu der Löwenhaut gelangte. Auf einsamer Jagd hing er in Gedanken der Verflossenen nach, sah sich nicht vor und wurde von dem Löwen gestellt. Nach stundenlangem Ausharren in Gluthitze, Aug’ in Auge mit der Bestie, entdeckten und retteten ihn Kameraden; seit welchem Glücksfall er sich wie neugeboren, von Schmollerei und altem Liebeskummer kuriert fühlt.

Romeo und Julia auf dem Dorfe

Sali und Vrenchen, nach einem Gemälde von Ernst Stückelberg

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An einen wirklichen Vorfall anknüpfend erzählt Keller Shakespeares Romeo und Julia neu und verlegt dazu die Handlung ins 19. Jahrhundert und in die Schweiz. Unweit Seldwylas pflügen zwei reiche Bauern ihre Felder. Dabei eignen sie sich Furche um Furche den Acker eines Armen an. Im Streit um diesen Besitz werden sie zu erbitterten Feinden, geraten in die Hände von Seldwyler Advokaten und ruinieren in jahrelangen Prozessen ihre Höfe. Ihr Hass zerstört auch das Leben ihrer Kinder: Sali und Vrenchen lieben sich ohne Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Sie beschließen, zusammen einen einzigen schönen Tag zu verbringen und sich dann zu trennen. Doch am Ende dieses Tages können sie nicht mehr voneinander lassen und nehmen sich gemeinsam das Leben.

Frau Regel Amrain und ihr Jüngster

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Die Geschichte einer Alleinerziehenden: Frau Regula Amrain hat von auswärts eingeheiratet. Ihr Mann, ein echter Seldwyler, ist vor seinen Gläubigern nach Amerika entflohen und hat ihr drei Söhne und einen überschuldeten Steinbruch hinterlassen. Diesen rettet sie, macht ihn mit Hilfe eines jungen Werkmeisters rentabel und bewahrt ihre Söhne davor, die allgemeine Seldwyler Marschrichtung einzuschlagen. Höhepunkt der Erzählung: Ihr jüngster Sohn Fritz, kaum fünfjährig, verteidigt sie ritterlich gegen die Zudringlichkeit des Werkmeisters, den es nach der schönen Frau und dem gutgehenden Betrieb gelüstet. Als Fritz heranwächst, revanchiert die Mutter sich für diesen Dienst und befreit den Sohn aus den Händen einiger Seldwylerinnen von zweifelhaftem Ruf – eine Lektion über erotische Erziehung, der weitere über politische Erziehung folgen. Zum Schluss gibt es eine Überraschung: Herr Amrain kehrt zurück.

Die drei gerechten Kammmacher

Züs Bünzlin predigt den drei Kammmachern, Holzschnitt von Ernst Würtenberger

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Die Leute von Seldwyla haben bewiesen, daß eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kammmacher aber, daß nicht drei Gerechte lang unter einem Dach leben können, ohne sich in die Haare zu geraten.[2]

Die Rede ist von drei deutschen Handwerksgesellen, die es nach Seldwyla verschlagen hat. Alle drei gleich fleißig, ordentlich und genügsam, verfolgt jeder nur das eine Ziel, seinem Meister die Kammmacherei abzukaufen. Dafür schuften, sparen und rennen sie schließlich miteinander um die Wette. Die Hauptrolle in der Geschichte spielt aber die wohlredende Jungfer Züs Bünzlin, Besitzerin eines Wertpapiers, einer gewissen Bildung und auch sonst nicht ohne Reize. Die drei Gesellen liegen ihr zu Füßen und flehen sie an, sich für einen von ihnen zu entscheiden. Doch Züs hat ein grausam falsches Herz und treibt zwei von ihnen ins Verderben. Der dritte bekommt zwar, was er will, die Jungfer und die Kammmacherei, wird aber unter Züs’ Pantoffel seines Lebens nicht mehr froh.

Spiegel, das Kätzchen

Spiegel, die Eule und die Hexe, Kreidezeichnung von Frank Buchser

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Diese Geschichte trägt den Untertitel Ein Märchen und spielt im späten Mittelalter: Der Kater Spiegel landet nach dem Tode seiner Herrin auf der Straße. Dort begegnet er dem Seldwyler Stadthexenmeister Pineiß, der zu seiner Hexerei den Schmer (das Fett) von Katzen braucht. Um nicht zu verhungern, schließt der Kater mit ihm einen Vertrag: Pineiß verpflichtet sich, Spiegel herauszufüttern, Spiegel muss sich dafür zwecks Schmergewinnung schlachten und auskochen lassen, sobald er fett genug ist. Doch als es ihm an den Kragen geht, erzählt der schlaue Kater dem Hexenmeister die Geschichte von einem Goldschatz, den nur er, Spiegel, heben kann. Mit Hilfe seiner Freundin, einer Eule, gelingt ihm das, und am Ende erhält Pineiß als Preis für Spiegels Freiheit viel Gold und eine liebliche junge Ehefrau. Diese aber verwandelt sich in der Hochzeitsnacht in seine verhasste Nachbarin, die fromme Beghine, die in Wirklichkeit eine üble Hexe ist. – Mit viel Kunst hat Keller Spiegels Erzählung vom Goldschatz als klassische Liebesnovelle im Stile des Decamerone ausgeführt.

Inhalt von Teil II

Einleitung

Seit die erste Hälfte dieser Erzählungen erschienen, streiten sich etwa sieben Städte im Schweizerlande darum, welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint sei;[3] und da nach alter Erfahrung der eitle Mensch lieber für schlimm, glücklich und kurzweilig als für brav, aber unbeholfen und einfältig gelten will, so hat jede dieser Städte dem Verfasser ihr Ehrenbürgerrecht angeboten für den Fall, daß er sich für sie erkläre.

Der angetragenen Ehrung, mit der die Städte – angeblich – hartnäckig fortfahren, sich ihres Homers schon bei dessen Lebzeiten versichern zu wollen, entzieht sich der Verfasser ironisch-diplomatisch, indem er rät, Seldwyla als eine ideale Stadt zu betrachten, welche nur auf den Bergnebel gemalt sei und mit ihm weiterziehe, auch über die Grenzen des Vaterlandes hinaus. Im Übrigen habe der rasche Wandel der Welt die Auffälligkeit Seldwylas beseitigt. Besonders sei es die überall verbreitete Spekulationsbetätigung in bekannten und unbekannten Werten, welche den Seldwylern ein Feld eröffnet hat, das für sie wie seit Urbeginn geschaffen schien und sie mit Einem Schlage Tausenden von ernsthaften Geschäftsleuten gleichstellt. (Mit heutigen Begriffen: Seldwyla globalisiert sich, indem der Globus sich seldwylisiert). Allerdings, fährt Keller fort, gehe dabei gerade das, was die Seldwyler sympathisch macht, verloren: Sie verlernen das Lachen, zum Lustigsein fehlt ihnen die Zeit und zur Politik der Mut. Denn: Schon sammelt sich da und dort einiges Vermögen an, welches bei eintretenden Handelskrise zwar zittert wie Espenlaub oder sich sogar still wieder auseinander begibt wie eine ungesetzliche Versammlung, wenn die Polizei kommt. Kurz, die Seldwyler sehen immer mehr wie andere Leute aus; Grund für den Verfasser, mit dem zweiten Band aus den guten lustigen Tagen der Stadt noch eine kleine Nachernte zu halten. Dabei geraten auch andere Städte in sein Blickfeld, zunächst das solide und gediegene Goldach.[4]

Kleider machen Leute

Keller als Kunststudent im Strapinski’schen Radmantel

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Nach Goldach wandert der schlesische Schneidergeselle Wenzel Strapinski, nachdem er bei einem Seldwyler Konkurs Arbeitsplatz und ausstehenden Lohn verloren hat. Da er in einer herrschaftlichen Kutsche eintrifft – ein mitleidiger Kutscher hat ihn aufgeladen – und wegen seiner guten Kleider und Manieren halten die Goldacher ihn für einen polnischen Grafen im Exil. Mehrmals versucht Strapinski, sich der aufgedrungenen Rolle durch Flucht zu entziehen. Doch dann verliebt er sich in Nettchen, die hübsche Tochter des Goldacher Amtsrats. Als das Paar zur Feier seiner Verlobung einen Ball gibt, erscheint ein Fastnachtszug aus Seldwyla – Motto: „Kleider machen Leute“ – und entlarvt den falschen Grafen. Wenzel flieht in die Winternacht hinaus. Doch Nettchen folgt ihm, zieht ihn halb erfroren aus dem Schnee und bekennt sich zu ihm, nachdem sie sich überzeugt hat, dass er sie liebt. Die beiden fliehen nach Seldwyla, den dortigen Narren zum Trotz, und setzen gegen heftigen Goldacher Widerstand ihre Heirat durch. Fast bricht, laut Erzähler, über der Affäre ein neuer Trojanischer Krieg aus, als nämlich die Goldacher mit Polizeikräften heranrücken und die Seldwyler sich zusammenrotten, um sich Nettchens großes Vermögen nicht entgehen zu lassen. Mit diesem gründet Wenzel tatsächlich ein Atelier, schneidert den Seldwylern feine Kleider und lässt sie, zu ihrem Missfallen, ordentlich dafür bezahlen.

Der Schmied seines Glückes

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Mit wenigen gezielten Meisterschlägen schmiede der rechte Mann sein Glück, meint Hans Kabis und ändert seinen Namen in John Kabys, um sich einen angelsächsisch unternehmenden Nimbus zu geben. Doch das Glück bleibt aus, und nach einigen weiteren Fehlschlägen findet sich John in einem Winkel Seldwylas als Inhaber einer kleinen Barbierstube wieder. Dort erfährt er eines Tages, dass in Augsburg ein steinreicher alter Vetter von ihm lebt. Er schließt sein Geschäft, reist hin und gewinnt das Vertrauen des Herrn Litumley. Da dieser schon zum dritten Mal kinderlos verheiratet ist, erklärt er John testamentarisch zu seinem natürlichen Sohn und Erben. Nun könnte der Barbier zufrieden sein. Doch um sein Glück recht an die Wand zu nageln, lässt er sich mit der jungen Ehefrau seines Gönners ein. Eines Tages ist der Alte besonders guter Laune und schickt Kabys auf eine Studienreise: er soll sich in Fragen vornehmer Kindererziehung kundig machen. Als John nach ein paar Monaten zurückkehrt, quäkt im Haus ein Baby. Strahlend teilt Litumley ihm mit, dass seine Frau ihm einen Stammhalter geschenkt hat und dass das Testament vernichtet ist. John protestiert, bezichtigt Madame Litumley des Ehebruchs, worauf der Alte ihn hinauswirft. Mit dem Rest seines Reisegeldes kehrt der Glücksschmied nach Seldwyla zurück, kauft dort eine kleine Schmiede und lernt Nägel machen.

Die mißbrauchten Liebesbriefe

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Der erfolgreiche Gemischtwarenhändler und Freizeitliterat Viggi Störteler hat die Idee, seine Frau zur Muse auszubilden. Während einer Geschäftsreise schickt er ihr hochtrabende Liebesbriefe und befiehlt ihr, diese im selben Stil zu beantworten. Gritli kann das nicht und verfällt in ihrer Not darauf, die Briefe abzuschreiben und an den Schulmeister Wilhelm zu richten. Dieser, ein schwärmerischer junger Mensch, wundert sich zwar über das geschwollene Zeug, hält sich aber für geliebt und antwortet mit feurigen Wortergüssen, welche Gritli erneut abschreibt und an Viggi richtet. Schon hat der Literat einen Buchtitel für die täglich dicker werdende Briefsammlung ausgedacht, da fliegt der Schwindel auf. Viggi tobt, verlangt die Scheidung und verliert unter dem Gelächter der Seldwyler seine hübsche Frau samt ihrem Zugebrachten. Der arme Wilhelm aber verliert seine Stelle. Beschämt zieht er sich in die Einsamkeit zurück, um die Geliebte zu vergessen. Doch bei Gritli hat es ebenfalls gezündet: Sie sucht ihn, stellt ihn auf die Probe, und die beiden werden ein Paar. Viggi findet eine neue Muse in Kätter Ambach, einem stadtbekannten Blaustrumpf. Sie hilft ihm, den Rest seines Vermögens durchzubringen, weiß dafür aber seine Geistesgröße zu schätzen.

Dietegen

Der Armbrustschütze, Holzschnitt von Ernst Würtenberger

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Die Geschichte führt wieder ins späte Mittelalter zurück. – Am Nordhang des Seldwyler Waldgebirges liegt die finstere Stadt Ruechenstein. Deren ganzer Stolz ist eine eigene Blutgerichtsbarkeit. Diese üben die Ruechensteiner fleißig aus und machen dabei gern kurzen Prozess; so mit Dietegen, einem Waisenknaben, den sie des Diebstahls einer silbernen Kanne bezichtigen, die dieser gegen eine Armbrust eingetauscht hatte. Just am Tage, als sie mit den Seldwylern die Beilegung einer langen Fehde feiern, führen sie den Elfjährigen zum Galgen. Den Gästen vergeht die Fröhlichkeit. Sie brechen auf und begegnen unterwegs dem Karren mit dem Armesündersärglein. Da entdeckt die siebenjährige Küngolt, dass der Knabe noch lebt. Seldwyla erhält ihn zum Geschenk, und Küngolts Familie nimmt ihn an Kindesstatt an. Zusammen wachsen Dietegen und Küngolt prächtig heran, er liebt sie und macht ihr den Beschützer, obwohl sie ihn öfters kränkt; denn sie betrachtet ihn als ihr persönliches Eigentum, wie sie überhaupt Anlagen zur Herrsch- und Gefallsucht zeigt. Als sie damit großes Unheil anrichtet und neuen Unfrieden zwischen den Nachbarstädten stiftet, gibt Dietegen sie für verloren und stürzt sich in wilde Kriegsabenteuer. Im Feldlager erreicht ihn die Nachricht, dass die Ruechensteiner Küngolt gefangen haben und sie der Hexerei anklagen. Ohne Zögern macht er sich auf den Weg und rettet sie nach altem Rechtsbrauch, indem er sie vom Schafott weg heiratet. Nun stehen die beiden auf gleichem Fuße und werden ein glückliches Paar.

Das verlorne Lachen

→ Hauptartikel

Anders als in der Einleitung angekündigt spielt die letzte Geschichte im „modernen“ Seldwyla. – Das Lachen, das verloren geht und wiedergefunden wird, ist Ausdruck des fröhlichen Naturells zweier wohlgearteten und glücklichen Menschen, Jukundus und Justine, er Offizier im Schweizer Heer und Fahnenträger des Seldwyler Sängervereins, sie Tochter der schwerreichen Familie Glor, Seidenfabrikanten in Schwanau.[5] Auf einem Sängerfest verlieben sie sich und heiraten, nachdem Jukundi den jüngsten Sohn der Glors in einer Duellaffäre klug beraten und so die Bedenken der Familie gegen seine Mittellosigkeit und Herkunft aus dem Lumpennest zerstreut hat. Im Kontor der Seidenfabrik aber zeigt sich, dass es ihm an kaufmännischer Schläue und Härte fehlt. Überdies verhält er sich kühl gegen die kirchliche Reformbewegung, für die Justine sich engagiert. Es kommt zum Ehestreit. Er kann ein Wort, das ihr dabei herausrutscht, nicht ertragen und verlässt auf der Stelle das Glorsche Haus. Fortan verschwindet aus beider Zügen das gewinnende Lächeln. Getrennt gehen sie ihrer Wege – sie religiöse, er politische – und erkennen diese erst als Irrwege, als zwei öffentliche Erschütterungen eintreten: Eine Handelskrise bringt das Glorsche Unternehmen an den Rand des Ruins und Justine zur Einsicht, dass ihr das Reformchristentum keinen Halt bietet. Eine Volksbewegung, der Jukundus sich gutgläubig angeschlossen hat, artet zu einer Verleumdungskampagne aus und zeigt dabei ihr wahres Gesicht. Erschreckt macht jedes sich auf, Gewissheit über sein Tun und Selbst zu erlangen, und dabei kreuzen sich zufällig ihre Wege. Unverhofft stehen sie voreinander und fallen sich in die Arme. Während ihrer Aussprache stellt sich auch das Lachen wieder ein, als er sie nämlich bittet, das trennende Schimpfwort zu wiederholen. Sie spricht es als Kosewort aus und sagt zu ihm „Lumpazi!“.

Erläuterungen zu Gehalt und Rezeption

Literaturgeschichtliches

Seldwyla, auf den Bergnebel gemalt, gehört mit Nephelokokkygia und Laputa zu den Städten zwischen Himmel und Erde. Eine „civitas dei helvetica“ nannte es Walter Benjamin,[6] wohl weil es Ziel heftiger Sehnsucht ist, ungeachtet der mangelnden Gottseligkeit seiner Bewohner. Deren bedenkliche Eigenschaften hindern indessen nicht, dass die Stadt im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs fortbesteht, als walte darin jene unsichtbare Hand, welche die Lebenskraft eines Gemeinwesens aus der moralischen Unzulänglichkeit seiner Bürger erwachsen lässt. Georg Lukács fühlte sich durch Seldwyla an den Gegenentwurf zum tugendreichen Utopia erinnert, Mandevilles paradoxen Bienenstaat aus der Frühzeit der liberalen Gesellschaftstheorie.[7]

Mit Abdera, Schilda etc. gehört Seldwyla auch zu den Narrenstädten. In jeder der zehn Novellen attackiert der Erzähler eine oder mehrere Narrheiten, meist durch satirische Zeichnung oder ironischen Kommentar, selten lehrhaft-moralisch.[8] Der Zyklus stellt sich somit als später Nachfahre der Narrenliteratur dar.[9] Zugleich beansprucht er einen Platz in der Geschichte der erotischen Literatur: Alle Seldwylergeschichten sind Liebesgeschichten oder enthalten solche im Kern. Dass beide Gattungen zusammenhängen, belegt seit dem Mittelalter die Vielzahl von Facetien, Schwänken und Fastnachtsspielen. Auch im Decamerone und im Don Quijote – Kellers Lieblingsbuch – gehen Narrheit und Verliebtheit Hand in Hand.

Dank Kellers ausgedehnten Lektürestreifzügen in die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts standen viele Werke dieser Epoche bei der Entstehung der Leute von Seldwyla Pate. Im Zeitalter der Aufklärung und der beginnenden Romantik hatte sich – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Narrenfiguren Cervantes’ und Shakespeares – das Bild des Narren gründlich gewandelt. Die derb-witzige Narrenschelte nach dem Vorbild von Sebastian Brants Narrenschiff war aus der Mode gekommen und mit ihr die grobschlächtige, an den Katalog der Todsünden angelehnte Einteilung der Narrheiten. Der Narr als Phantast, der die Möglichkeiten der Welt tiefer erkennt, indem er ihre Wirklichkeit scheinbar verkennt, beanspruchte philosophisches Interesse.[10] Die Gesellschaftskritiker des 18. Jahrhunderts, Erben der humanistischen Moralistik, entdeckten die phantastische Erzählung als Mittel der Satire. Mit Vorliebe schlüpften sie in das Gewand von Reisenden (wie Gulliver), erkundeten darin imaginäre Länder und absurde Städte (wie Laputa), um von solchermaßen ver-rückten Standorten aus die Sitten und Einrichtungen ihrer Heimat zu beleuchten. Die Schärfe ihrer Kritik richtete sich nun gegen die scheinbar Klugen und Gerechten, die ihre Wohlangepasstheit an vernunftwidrige Verhältnisse mit Heuchelei und Bigotterie, d. h. mit dem Opfer von Verstand und Menschenwürde erkaufen.

In diesem Geiste, dem Swifts und Molières, schuf Keller die drei gerechten Kammmacher, die Jungfer Bünzlin (ein weibliches Pendant zum Tartuffe), den Hexenmeister Pineiß, den Erbschleicher Kabys, den Möchtegern-Patrizier Litumley, den schriftstellernden Erznarren Störteler – Keller war „ein Literatursatiriker von hohen Graden“[11] –, die Ruechensteiner Finsterlinge und den intellektuell unredlichen Reformgeistlichen im „Verlornen Lachen“. Mehrere dieser Figuren erinnern auch ans Muster der romantischen Satire auf den Philister. Der höfliche Kater Spiegel dagegen, als Anti-Philister stilisiert, trägt Züge eines „honnête homme“ im Sinne des aufklärerischen Persönlichkeitsideals.

Wieder eine andere, oft übersehene Richtung aufklärerischer Gesellschaftskritik, die Wirtschaftssatire, kommt zum Zuge, wo sich der Erzähler über den Schlendrian der Seldwyler lustig macht. Indem er ihrem faulen Kreditverkehr den auf wirkliche Produktion gegründeten Erwerb Frau Amrains gegenüberstellt, folgte er einem von Pestalozzi und Gotthelf angesponnenen Faden. Über das politische Treiben der Seldwyler fällt sein Spott in Teil I vergleichsweise milde aus – 1856 ist Keller mit den „vaterländischen Zuständen“ im Großen und Ganzen noch zufrieden.[12] Umso freier lässt er ihm in der Schlussnovelle des Zyklus, 1874 unter gewandelten Verhältnissen, die Zügel schießen.

Nicht alles, was in den Leuten von Seldwyla als Narrheit gegeißelt wird, ist zum Lachen. Während der Erzähler mit törichten Verliebten meist glimpflich verfährt, kennt er der Besitzwut gegenüber keine Nachsicht. Dies gilt besonders für „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, der einzigen Geschichte mit tragischem Ausgang. Hier figurieren die Väter als Narren, jedoch – im Sinne des mittelalterlichen Narrenbildes – als ruchlose Narren,[13] deren Handeln, so lächerlich es ist, angesichts seiner absehbaren Folgen jede Heiterkeit im Keim erstickt.

Umgekehrt ist nicht alles, was in den Leuten von Seldwyla Heiterkeit erregt, närrisches oder auch nur unkluges Verhalten. Über den kleinen Amrain, wenn er den zudringlichen Werkmeister in die Flucht schlägt, lacht man, aber man lacht ihn nicht aus. Man erfreut sich an der Schelmerei Vrenchens, wenn es einer Bauersfrau vorschwindelt, Sali sei sein Bräutigam und habe das große Los gewonnen, oder an der Koketterie von Gritlis attraktiver Freundin, wenn sie Wilhelm auf die Feuerprobe stellt. Geradezu chaplinesk wirkt Wenzel Strapinski, wenn er der Goldacher Hautevolee ein nicht ganz stubenreines Liedchen vorträgt, dessen polnische Worte er selber nicht versteht. Über dieser Art von Komik, frei von aggressivem Spott, wird oft die andere, maliziöse Seite des Kellerschen Humors übersehen, was eine Klärung nötig macht.

Humor

„Ich sage Ihnen, das größte Übel und die wunderlichste Komposition, die einem Menschen passieren kann, ist, hochfahrend, bettelarm und verliebt zu gleicher Zeit zu sein und zwar in eine elegante Personnage.“ Keller 1855 an Hermann Hettner.[14]

Dem Autor der Leute von Seldwyla auf den Leib geschrieben scheint Freuds Bestimmung des Humors als der „siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs“[15]: Von Nahrungs- und Kleidungssorgen, Schulden und Schuldgefühlen gepeinigt, in ständigem Kampf mit seinem Verleger,[16] schwer an der Schweizerkrankheit Heimweh leidend und endlich gar noch hoffnungslos verliebt schrieb Keller während seines fünfjährigen Berliner Aufenthaltes den autobiographischen Roman Der grüne Heinrich. In den Pausen dieser schmerzhaften Beschäftigung mit dem eigenen Ich erfand er sich zur Erholung eine heimatliche Stadt, bevölkerte sie mit anderen Ichs, versetzte diese in allerlei prekäre Lagen und beobachtet interessiert ihre Auftritte, ihr Gebaren, die Weise, wie sie sich den Gesetzen des Weltlaufs widersetzten oder fügten. (Keller war nach Berlin gekommen, um Stückeschreiber zu werden, sein Interesse war das des Dramatikers). Kaum lag der letzte Band des Romans im Frühjahr 1855 druckfertig vor, brachte der Dichter das zumeist nur gedanklich Ausgesponnene in wenigen Monaten zu Papier: Teil I der Seldwyler Geschichten.

Selbsterlebtes findet sich, stark verhüllt, darin zuhauf. Biographischer Stoff, der nicht ins Romankonzept passte, wurde ausgegliedert, mit Gehörtem und Gelesenem kombiniert, durch freie Erfindung ergänzt, pointiert und den Novellen einverleibt; so die Liebesenttäuschung in „Pankraz der Schmoller“ – die einzige Ich-Erzählung des Zyklus mit Zügen eines kurzgefassten Entwicklungsromans; so Kellers schon länger zurückliegendes Abenteuer als Freischärler in „Frau Regel Amrain“ – er lässt es dem zwanzigjährigen Fritz zur Lehre dienen; so auch die quälende Auseinandersetzung mit dem Verleger in „Spiegel das Kätzchen“ – der Autor verkauft, um nicht zu verhungern, sein Leben einem nur auf Schmer erpichten Hexenmeister. Auch Teil II des Zyklus enthält Kellerschen Lebenstoff; andeutungsweise und subtil in „Kleider machen Leute“ – die Gefühle eines unfreiwilligen Hochstaplers bei der Entlarvung konnte Keller nachvollziehen, hatte er seinen Zürcher Förderern doch „hochfahrend“ angekündigt, in Berlin Theaterruhm zu erwerben, und war damit gescheitert; massiv und unübersehbar im „Verlornen Lachen“ – fast ein Schlüsselroman, in welchem der Politiker Keller Erfahrungen niederlegte, die er während seiner Amtszeit gemacht hatte.

Im Grünen Heinrich schildert der Erzähler die Befriedigung, die es ihm als Kind gewährte, Schicksal zu spielen. Der Knabe Heinrich zeichnet auf einen Papierbogen die vier Weltgegenden, Zonen und Pole, Himmelsräume, […] Menschen und Geister, Erde, Hölle, Zwischenreich. Seine Lieben und sich selbst lässt er in heiteren Gefilden spazieren, seine Widersacher aber verbannt er in die Hölle:

Je nach dem Verhalten der Menschen veränderte ich ihre Stellungen, beförderte sie in reinere Gegenden oder setzte sie zurück, wo Heulen und Zähneklappern herrschte. Manchen ließ ich prüfungsweise im Unbestimmten schweben, sperrte auch wohl zwei, die sich im Leben nicht ausstehen mochten, zusammen in eine abgelegene Region, indessen ich zwei Andere, die sich gern hatten, trennte, um sie nach vielen Prüfungen zusammenzubringen an einem glückseligeren Orte. Ich führte so ganz im Geheimen eine genaue Übersicht und Schicksalsbestimmung aller mir bekannten Leute, jung und alt.[17]

Nicht viel anders verfährt der Autor Keller mit Seldwylern und Seldwylerinnen, wenn er ihnen, je nach Verdienst, das passende Gespons zuteilt, dem Hexenmeister die Hexe, dem Schneidergesellen die Amtsratstochter. Wieder liefert eine Bemerkung Freuds hierzu den Kommentar: „Der Erwachsene kann sich darauf besinnen, mit welchem hohen Ernst er einst seine Kinderspiele betrieb, und indem er nun seine vorgeblich ernsten Beschäftigungen jenen Kinderspielen gleichstellt, wirft er die allzuschwere Bedrückung durchs Leben ab und erringt sich den hohen Lustgewinn des Humors.“[18]

Dem Schriftsteller, für den das Ausdenken von Lebensläufen alltäglicher Berufsernst ist, bietet der Humor über die private Lustprämie hinaus noch einen weit größeren Vorteil: Er ermöglicht ihm, über seinen Schatten als modern-subjektiver, „sentimentalischer“ Dichter zu springen und wieder auf antike Weise „homerisch-naiv“ zu dichten.[19] Wie sehr sich Keller dessen bewusst war, zeigt die Anspielung auf Homer in der Einleitung zum Teil II des Zyklus. Für einen Augenblick tritt hier der Autor vor den Vorhang und bekennt sich – ironisch – als allwissender, „objektiver“, in einem wohlgefügten Kosmos heimischer Erzähler. Sonst treibt er sein Wesen eher hinter den Kulissen. Unauffälliger noch als das Kind im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern, aber ebenso aufmerksam fasst er die Szene ins Auge, erkennt, was gespielt wird, und spricht es ungeniert aus. Die „unvergleichliche Frische“ der Leute von Seldwyla,[20] ihre Lebenswahrheit und Aktualität, verdankt sich dieser humoristisch erzeugten Naivität.

In der Mehrzahl lobten die zeitgenössischen Rezensenten der Leute von Seldwyla Kellers Humor.[21] Wo er seine unversöhnliche Seite hervorkehrte, ging allerdings manchem der Spaß zu weit.[22] Tiefer in das „‚bedenkliche‛ Grotten- und Höhlensystem“ im Untergrund der Texte drang erst Benjamin vor und öffnete damit den Blick für das Groteske bei Keller.[23] Die verbreitete Tendenz, sich allein an die sonnige, goldene Seite seines Humors zu halten und von der dunklen abzusehen, kritisierte Lukács:

Der Humor Kellers ist mit der Unerbittlichkeit seiner Moral und seiner künstlerischen Kompositionsweise eng verknüpft. Er ist kein rührseliges ‚Verständnis‛ für menschliche Schwächen, keine lächelnde Verschönerung der Hässlichkeit, der Prosa des Lebens, wie bei den meisten seiner deutschen Zeitgenossen. […] Kellers Humor gräbt das Wesen bestimmter Typen aus, deren verborgene Lächerlichkeit dadurch enthüllt und ins Monumentale gesteigert wird. Und Keller gibt jede auf diese Weise entlarvte Wesenlosigkeit oder Niedrigkeit einem schonungslosen homerischen Gelächter preis. In dieser Art ist Keller ebenso grausam wie Shakespeare, Cervantes, oder Molière.
Und er ähnelt ihnen auch darin, daß er die komischen Seiten sonst tüchtiger, sonst von ihm bejahter Figuren ebenfalls schonungslos dem Gelächter preisgibt, mag die betreffende Figur ihm noch so sehr ans Herz gewachsen sein. […] Denn diese Sympathie beruht ebenso auf der Wirklichkeit, auf miterlebten Handlungen einer solchen Figur, auf in diesen offenbar werdenden menschlichen Eigenschaften wie jene komischen Züge, deren unerbittliche Darstellung unser Lachen hervorruft. Gerade die allseitige und realistische Darstellung des Menschen ermöglicht eine solche widerspruchsvoll vielseitige Stellung des Lesers zu den dichterischen Gestalten.[24]

Realismus

Im Streit ums literarische Erbe des 19. Jahrhunderts, der nach 1945 zwischen Literaturwissenschaftlern der verfeindeten politischen Lager schwelte, wurde auch der „Schweizer Homer“ verhandelt. Es ging dabei um den Abbildcharakter von Dichtung, die Widerspiegelungstheorie und, damit zusammenhängend, die Erklärungskraft des Begriffes Realismus.

Im Osten verstand man zumindest Teil I der Leute von Seldwyla als Abbild „von weitreichender Typik und tiefem Wirklichkeitsgehalt“.[25] Es zeige die noch vorwiegend kleinstädtische, halb ländliche Welt der Schweiz und weiter Teile Deutschlands in dem Augenblick, da erste Wirkungen des in den Metropolen entfesselten kapitalistischen Prozesses sie erreichten. Anders als seine deutschen Zeitgenossen zeichne Keller den Kleinbürger jedoch nicht als kauzigen Individualisten, der dem schwindenden Idyll nachtrauert. Vielmehr stelle er das „Kleinbürgertum als gesellschaftliches Phänomen“ dar, als Klasse in Bewegung, mit dem für sie typischen „Hin- und Hergerissensein“ zwischen Fortschritt und Reaktion.[26] Dank seiner Wurzeln in der „urwüchsigen Schweizer Demokratie“ (Lukács)[27] und als Citoyen einer weltoffenen Republik mit regem politischen Leben[28] sei er „weit davon entfernt, eine romantisch-antikapitalistische Position zu beziehen und […] ebenso weit davon, die kapitalistische Gesellschaftsform kritiklos zu bejahen oder gar literarisch zu glorifizieren.“[29] Keller war damit als kritischer „bürgerlicher Realist“ eingeordnet, der in seinem frühen Schaffen „alle Möglichkeiten eines vormarxistischen Geschichtsverständnisses“ wahrgenommen habe.[30]

Im Westen pflegte man unterdessen die werkimmanente Interpretation, sah von biographischen und gesellschaftlichen Bezügen weitgehend ab und untersuchte dafür Strukturen von Dichtungen und die Funktion der dichterischen Einbildungskraft. Die Befunde der östlichen Germanistik stießen auf das Argument, dass der Dichter die Wirklichkeit nicht einfach widerspiegle (Mimesis), sie vielmehr erst erzeuge (Poesis), indem er im Dargestellten das Überzeitliche, allgemein Menschliche zur Geltung bringe und dabei mit dem Unvollkommenen, Allzumenschlichen humorvoll versöhne. Keller war damit als „poetischer Realist“ eingeordnet, ein Etikett, welches geeignet war, die Schärfe seiner Zeit- und Gesellschaftskritik vergessen zu lassen.[31]

Der Autor der Leute von Seldwyla selbst hat seine Auffassung vom Poetischen in einer knappen Vorbemerkung zu „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ niedergelegt: Dichter erfinden viel weniger, als gemeinhin angenommen; sie finden vor. Die dichterischen Fabeln der großen alten Werke sind nicht der Phantasie entsprungen, sie ereignen sich draußen im wirklichen Menschenleben, und zwar immer wieder neu, in zeitbedingt wechselnder Verkleidung. Aufgabe des Poeten ist, sie zu entdecken und festzuhalten, wozu es allerdings Phantasie braucht. Über dichterische Figuren, etwa den Don Quijote, dachte er nicht anders:[32] Es gibt diese Typen, die Fauste, die Don Juans, die Falstaffs in Wirklichkeit. Wenn die Dichter sie nicht beschrieben hätten, existierten sie genauso; nur die Literatur wäre dann ärmer und wahrscheinlich auch die Sprache.

Die Kellerschen Leute sind kleine Leute, leben auf kleinem Fuße, und wie immer sie sich benehmen, heldenhaft oder schurkisch, großmütig oder kleinkariert, sie passen in das für sie entworfene Gehäuse, die Kleinstadt Seldwyla. Der Autor hat seine Version der menschlichen Komödie eben nicht romanhaft breit, sondern novellenhaft schlank abgeliefert. Dafür hatte er (didaktisch und politisch gefärbte) künstlerische Gründe.[33] Diese analysierte, wog und billigte gerade der von Hegel, Marx, Balzac und Tolstoi an große historische Maßstäbe gewöhnte Georg Lukács.[34] Dagegen sahen manche Kritiker in Kellers Hinwendung zum Kleinen nicht die Beschränkung des Meisters, sondern Unvermögen aus kleinbürgerlicher, kleinmeisterlicher Befangenheit. So, nach Kellers Worten, Conrad Ferdinand Meyer: „Es ist schade um Ihre Gabe des Stils! Sie verschwenden ihn an niedrige Stoffe, an allerlei Lumpenvolk! Ich arbeite nur mit der Historie, kann nur Könige Feldherren und Helden brauchen! Dahin sollten Sie streben!“[35] Keller ließ sich davon nicht beirren. Einem Schriftstellerkollegen, der meinte, ihn ermutigen zu müssen, antwortete er: „Die Ermahnung am Schlusse, wichtigere oder größere Gegenstände zu besingen, will ich zu befolgen suchen, obgleich mir allmählig alles gleich groß vorkommt.“[36]

Literatur

  • Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Göschen, Stuttgart 1873–74

Textausgaben:

  • Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Text und Kommentar. Hrsg. von Thomas Böning. Deutscher Klassiker Verlag (suhrkamp insel). Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-618-68010-9
  • Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla. Hrsg. von Bernd Neumann. Reclam Verlag. Ditzingen 1993, ISBN 978-3-15-006179-4

Darstellungen:

  • Walter Benjamin: Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke. 1927. In: Gesammelte Schriften. Bd. 4., Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Werkausgabe edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1980.
  • Georg Lukács: „Gottfried Keller“ (1939). In: Die Grablegung des alten Deutschland. Essays zur deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. Rowohlt (rde), Reinbek 1967
  • Hans Richter: Gottfried Kellers frühe Novellen, Rütten und Loening, Berlin 1960
  • Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft. Studien zur Erzählkunst des poetischen Realismus. Eidos Verlag, München 1963
  • Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben, Insel Verlag, Frankfurt am Main 1981. Studienausgabe: 1995, ISBN 978-3-458-32726-4
  • Hans-Joachim Hahn und Uwe Seja (Hrsg.): Gottfried Keller. Die Leute von Seldwyla. Kritische Studien. Lang Verlag, Bern u. a. 2007, ISBN 978-3-03911-000-1

Einzelnachweise

  1. In Schrägschrift: Zitat aus Gottfried Keller: Sämtliche Werke, Bd. 7 und 8, hrsg. von Jonas Fränkel, Rentsch-Verlag, Erlenbach-Zürich und München 1927.
  2. Sämtliche Werke, Bd. 7, S. 259.
  3. Sieben griechische Städte stritten sich nach Homers Tod um die Ehre, als dessen Geburtsort zu gelten.
  4. Eine weitere fiktive Stadt, nicht zu verwechseln mit Goldach (Hallbergmoos) und Goldach (St. Gallen).
  5. Nicht zu verwechseln mit Schwanau (Baden-Württemberg).
  6. Walter Benjamin: „Gottfried Keller. Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke“ (1927), S. 284.
  7. Georg Lukács: „Gottfried Keller“ (1939), S. 46.
  8. Eine längere moralisierende Nachbemerkung zu „Romeo und Julia“ strich Keller für die Ausgabe von 1874 bis auf den ersten Satz.
  9. Vgl. Friedrich Theodor Vischers Rezension von 1874, online auf der Gottfried Keller Homepage von Walter Morgenthaler unter Besprechung (zeitgenössisch).
  10. So stattet der Erzähler des Grünen Heinrich seinen Helden öfters mit Narrenattributen aus. Zum Lob der „Schätze von Weisheit und Edelsinn“ in der Figur des Don Quijote vgl. das 12. Kapitel des vierten Bandes („Der gefrorne Christ“).
  11. Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben (1981), S. 316.
  12. Wie auch noch 1860 im Fähnlein der sieben Aufrechten, vgl. Gottfried Keller: „Selbstbiographie“ S. 5.
  13. Vgl. Klaus Jeziorkowski: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ als Modell jeder neuen Gegenwart. Nachwort zur Insel-Taschenbuchausgabe des Kellerschen Textes, Frankfurt am Main 1984, S. 126.
  14. Brief vom 2. November 1855. In: Gottfried Keller. Gesammelte Briefe, hrsg. von Carl Helbling, Benteli Verlag, Bern 1950-54, Bd. 1, S. 418.
  15. Sigmund Freud: „Der Humor“ (1927), in: Gesammelte Werke, S. Fischer, Hamburg 1961, Bd. 14, S. 385.
  16. Über diesen Kampf vgl. unter Gottfried Keller#Lebensumstände, Veröffentlichungen, Konzepte.
  17. Erstfassung Bd. 1, Kap. 7, Endgültige Fassung Bd. 1, Kap. 10 „Das spielende Kind“.
  18. „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908). In: Gesammelte Werke, S. Fischer, Hamburg 1961, Bd. 7., S. 215.
  19. Vgl. Wolfgang Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 152 f. Vgl. auch Theodor W. Adorno: „Über epische Naivetät“, in: Noten zur Literatur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1958, S. 50–60.
  20. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Metzler, Stuttgart 1971, Bd. 1, S. 264.
  21. So Vischer 1874@1@2Vorlage:Toter Link/www.gottfriedkeller.ch (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. und Berthold Auerbach 1875@1@2Vorlage:Toter Link/www.gottfriedkeller.ch (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  22. So Heinrich von Treitschke: „Gottfried Keller“, in: Historische und politische Aufsätze, Bd. 4, Leipzig 1897; so noch in jüngerer Zeit Adolf Muschg: Gottfried Keller, Kindler Verlag, München 1977, S. 385.
  23. Benjamin, S. 287. Vgl. dazu auch Wolfgang Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung, Rowohlt (rde), Reinbek 1960. Kayser leitet seine Studie mit einer ausführlichen Betrachtungen über „Die drei gerechten Kammmacher“ ein.
  24. Georg Lukács: Gottfried Keller, S. 47. Diese Ausführungen werden selten zitiert. Preisendanz wies sie implizit zurück, als er feststellte, es gebe bei Keller keine „saubere“ Trennung von versöhnlichem Humor und aggressiver Satire, weil es schwierig sei, „zu entscheiden, wo die Rechtfertigung aufhört und die Verwerfung anfängt, was an menschlicher Unvollkommenheit und Hinfälligkeit noch ‚versöhnlich‛ in Kauf genommen und was verurteilt und gezüchtigt wird“. Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 205.
  25. Hans Richter: Gottfried Kellers frühe Novellen (1960), S. 185. Im Kapitel „Seldwyla und die Wirklichkeit“ entzifferte Richter aus Kellers Einleitung zu Teil I die politisch-sozialen Grundverhältnisse während der Vorbereitungszeit und den ersten Jahren des modernen Schweizer Bundesstaates (1830–50).
  26. Hans Richter, S. 186 f. In der Tat gleichen Kellers Kleinbürger-Karikaturen mehr den Daumierschen als den Spitzwegschen.
  27. S. 35, leitmotivisch wiederkehrend.
  28. Vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von Kurt Böttcher: Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 8.1 (von 1830 bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts), Verlag Volk und Wissen, Berlin 1975, S. 573. Der eklatante Unterschied zwischen den politischen Verhältnissen in der Schweiz und in Deutschland als Grundvoraussetzung für Kellers Schaffen wurde von DDR-Germanisten nur zögernd anerkannt. Richter distanzierte sich 1960 noch ausdrücklich von Lukács’ „Überschätzung der schweizerischen Republik“ (S. 6).
  29. Hans Richter, S. 189. Zu Kellers Kapitalismuskritik vgl. auch Uwe Seja: „Seldwyla – A Microeconomic Inquiry“. In: Hans-Joachim Hahn (Hrsg.): Gottfried Keller, Die Leute von Seldwyla. Critical Essays. Lang Verlag, Bern u. a. 2007, S. 93–117.
  30. Geschichte der Deutschen Literatur, Bd. 8.1, S. 578.
  31. Als in der weiteren Entwicklung der westlichen Literaturwissenschaft die werkimmanente Interpretationsmethode durch sozial- und medienwissenschaftliche Verfahren verdrängt wurde, fand man neue Wege, der kellerschen Gesellschaftskritik ihren Stachel zu nehmen. So deutet Gerhard Kaiser 1980 in seiner dekonstruktivistischen Lektüre des kellerschen Gesamtwerks den Schluss der Kammmacher-Novelle als „die menschenfeindliche, fürchterliche Satire des Muttersohnes und Junggesellen Keller, dem ein Geselle die Mutter in zweiter Ehe weggenommen hat“ (S. 329). Zum Nachweis der fehlerhaften Voraussetzungen, auf denen diese Lektüre beruht, vgl. Rainer Würgau: Der Scheidungsprozess von Gottfried Kellers Mutter. Thesen gegen Adolf Muschg und Gerhard Kaiser, Niemeyer Verlag, Tübingen 1994.
  32. Vgl. Kellers An Hettner, 26. Juni 1854, Gesammelte Briefe, Bd. 1, S. 400.
  33. Hauptsächlich niedergelegt in Kellers zwischen 1849 und 1855 erschienenen Rezensionen der Romane von Jeremias Gotthelf.
  34. Vgl. Lukács S. 54–70.
  35. Keller an Theodor Storm, 29. Dezember 1881, Gesammelte Briefe, Bd. 3.1, S. 471.
  36. An Jakob Frey, 20. März 1875, Gesammelte Briefe, Bd. 4, S. 97f.
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