Das Fräulein von Rodenschild
Das Fräulein von Rodenschild ist eine Ballade von Annette von Droste-Hülshoff aus dem Jahr 1841. Darin begegnet die Titelfigur in der Osternacht einer Geistgestalt, die ihr absolut gleicht. Als die beiden sich berühren, verschwindet das Wesen und das Fräulein behält eine eiskalte Hand zurück, die sie fortan in einen Handschuh hüllt. Der Text wurde zunächst lediglich als Schauerballade verstanden. Seit dem 20. Jahrhundert erkennt man in dem Werk verdrängte Wünsche des Fräuleins, besonders in sexueller Hinsicht, und beleuchtet die Folgen der Anpassung an die Gesellschaft für die Identität der jungen Frau.
Veröffentlichung
Die Ballade entstand im November oder Dezember 1840, vermutlich auf Burg Hülshoff.[1] Droste stellte Levin Schücking den Text für sein im Februar 1841 erschienenes Buch Das malerische und romantische Westphalen zur Verfügung. Schücking gab die Ballade darin als eine Sage aus, die sich um das Schloss Holte ranke. Droste blieb als Verfasserin ungenannt. In der Neubearbeitung des Buches 1872 fehlen das Gedicht und der Hinweis auf die Sage, die offenbar eine Erfindung war.[2] Droste hatte den Text in überarbeiteter Form in ihre Gedichtausgabe von 1844 aufgenommen.
Inhalt
Das Fräulein von Rodenschild kann nicht schlafen und hört um Mitternacht von draußen den Gesang der Hausbediensteten, die sich versammelt haben, um das Osterfest einzuläuten. Am Fenster beobachtet das Fräulein die Szene. Plötzlich gerät die Gruppe in Aufregung, weil eine Geistgestalt, die dem Fräulein bis aufs Haar gleicht, auf Treppe und Hof umherwandelt und danach im Haus verschwindet. Das Fräulein verfolgt gebannt den Weg des Gespensts und beschließt, es zu fangen. Sie hört es im Archiv, dessen Tür verschlossen ist. Durch eine Spalte können sich die beiden aber sehen. Es kommt zur Berührung mit der rechten Hand, woraufhin das Phantom verschwindet. Die letzte Strophe schildert im Abstand von mehreren Jahren, wie das Mädchen wild tanzt. Es hat seine rechte, eiskalte Hand in einen Handschuh gehüllt.[3]
Form
Die Ballade besteht aus 15 Strophen mit je 7 Versen, die als Lutherstrophe mit dem Reimschema ababccb angeordnet sind und 8 bis 10 Silben umfassen. Die fünften und sechsten Verse jeder Strophe weisen eine klingende Kadenz auf, alle anderen sind stumpf. Jeder Vers besitzt vier Hebungen mit freier Senkungsfüllung.[4] Auffällig sind die vielen Fragen und Ausrufe sowie die zahlreichen Gedankenstriche, die eine Nähe zum Erleben des Fräuleins herstellen.[4] Es ist die einzige personale Sprechinstanz, markiert durch Anführungszeichen, aber schon in der 1. Strophe verschwimmen die Grenzen zwischen der Figur und der Erzählinstanz. Die Vermischung von Erzählbericht und innerem Monolog, der Ellipsen einschließt, ähnelt einem Bewusstseinsstrom.[5] Mit „bei meinem Eid!“ (V. 70) wird das lyrische Ich greifbar; mit „Da siehst ein Mädchen du“ (V. 100) wird der Adressat angesprochen. Der letzte Vers lässt sich keinem bestimmten Sprecher zuordnen.[6]
Deutung
Droste war dafür bekannt, gruselige Geschichten erzählen zu können. Das Fräulein von Rodenschild galt im 19. Jahrhundert als Paradebeispiel. Noch Benno von Wiese (1947) und Bernd Kortländer (1979) deuteten den Text nur als Gespensterballade.[7]
Verbot sexuellen Begehrens
Winfried Freund erkennt 1981 eine Beunruhigung des Fräuleins, das zwischen „willentlicher Selbstkontrolle und dem Einfluß ungestümer, willenloser Natur“ hin- und hergerissen sei.[5] Bereits die ersten beiden Verse führten in „das zentrale erotische Thema“[5] ein. Im österlichen Gesang, der vom „wimmernden Schrei der Eule durchsetzt“ (V. 21) ist, werde deutlich, dass sich „naturhafte Sinnlichkeit und das christlich-gesellschaftliche Sittengebot“ gegenüberstehen und eine Spannung bilden, an der „die persönliche Identität der Balladenheldin [zerbricht]“.[8] Das Fräulein reagiert heftig auf die Geistererscheinung: Es bebt vor Angst und ist gleichzeitig wie gebannt von ihr (vgl. V. 42 f.). Das Gespenst wird „als Identitätsbruch des Fräuleins, als Abspaltung der Sexualität von der eigenen Person“[9] gedeutet. Der Geist müsse vertrieben werden, wenn das Fräulein der gesellschaftlichen Moral gerecht werden will. Dies geschehe, psychologisch gesehen, durch Verdrängung der Triebwünsche. Mit der Unterdrückung ihres Begehrens sterbe ein Teil von ihr ab, versinnbildlicht durch die verkümmerte Hand, die das Fräulein zurückbehält, nachdem es das Gespenst vertrieben hat.[10] Bemerkenswert sei, dass sich Fräulein und Doppelgängerin an der verschlossenen Tür zum Archiv begegnen. Nur durch eine Spalte ist eine Verbindung möglich. Bruna Bianchi stellt fest, dass „die Drosteschen Gedichte in ihrer Gesamtheit mit einer Grenze und deren problematischen Überschreitung zu tun haben.“[11] Ähnlich wie im Gedicht Am Turme wird die Grenze jedoch nicht überschritten. Der Kontakt an der Türspalte erinnere zudem an Pyramus und Thisbe, die sich nur durch eine Mauerritze unterhalten und ihrer Liebe versichern können.[12]
Auto- und Homoerotik
Freund stellt die Ballade in eine Reihe mit dem Gedicht Die Taxuswand, in dem Droste auf den Bruch ihrer Beziehung zu Heinrich Straube anspielt.[10] Angela Steidele kann keinen Beleg für ein heterosexuelles Begehren finden: Das Verlangen sei zunächst unbestimmt und richte sich danach auf die Gestalt, die dem Fräulein gleicht. Ab Vers 43 „kennt ihr Begehren jedoch ein Objekt: Es ist eine andere Frau und zugleich sie selbst. Das homoerotische Begehren ist vom autoerotischen nicht zu trennen.“[13] Das Begehren komme darin zum Ausdruck, dass das Fräulein die Gestalt mit ihren Blicken geradezu verschlinge. Dieser Voyeurismus reiche der Titelfigur aber nicht: „Du sollst mir stehen! ich will dich fahn!“ (V. 64) Mit dem Verb „fahen“ werde verschleiert, dass sie die Gestalt berühren will.[14] Dabei sei der Schauplatz bedeutend: Das Archiv sei „ein Raum […] der Erkenntnismöglichkeit“.[15] In diesen verschlossenen, dunklen Raum will das Fräulein eindringen. Indem die einzige Öffnung als „Spalte“ (V. 74) bezeichnet werde und sich von innen „das Gespenst an der Pforte Breite, / Gleich ihr zur Nachbarspalte“ beuge (V. 83 f.), erhalte das Archiv „Ähnlichkeit mit dem weiblichen Genital“.[16] Das Eindringen in diesen Raum und die Berührung des Gespensts werden mit einer Verletzung bestraft: „Die eiskalte, also fühllose rechte Hand ist nicht nur zum Schreiben unbrauchbar, sondern auch zum Lieben. Daher wird das Fräulein verrückt.“[17] Droste kürzte die Szene im Arbeitsmanuskript um eine Strophe (vgl. Abb. oben). Darin war von „Haar“, „Stirn“ und „Zunge“ die Rede, von „Herzens Schläge“ und „Mädchens Busen“, von „beben“ und „zucken“. Steidele vermutet, dass Droste die Strophe zu sehr homoerotisch aufgeladen erschien. Der Entwurf untermauere aber den sexuellen Gehalt.[18]
Lesbische Vampire
Durch Johann Wolfgang von Goethes Ballade Die Braut von Korinth (1798) wurde die Gestalt des weiblichen Vampirs in der deutschen Literatur bekannt. Ihr Begehren richtet sich auf einen Mann, mit dem es zu einem Liebesakt kommt.[19] Anders verhält es sich beim Fräulein von Rodenschild und ihrer Doppelgängerin. Die Verse
Nun stehen die Beiden, Auge in Aug’,
Und bohren sich an mit Vampires Gewalt.
zeigen, wie sehr die Szene erotisch aufgeladen ist (V. 87 f.). Die beiden sind sich zum ersten Mal nah und schauen sich an. Zwar sei die Wendung vom ‚bohrenden Blick‘ üblich, hier werde das Bohren aber zur Handlung der beiden Figuren. „Der Vergleich mit dem Vampir, der für beide gilt, verstärkt diesen grammatikalisch forcierten Liebesakt.“[16] Im 19. Jahrhundert gestalteten Charles Baudelaire in seinem Gedichtband Les Fleurs du Mal (1857) und Joseph Sheridan Le Fanu in seiner Novelle Carmilla (1871) die Liebe zwischen Frauen als Vampirgeschichten.[20] Erst wenn eine Frauengestalt als Geist oder Vampir auftritt, werde die lesbische Liebe in Literatur und Film darstellbar.[21] Dies gelte auch für das Fräulein von Rodenschild: „Lesbisches Begehren wird im Irrealis dargestellt; eine der Frauen erscheint als Gespenst, womit die Frage des Begehrens zwar thematisiert, der fleischliche Vollzug jedoch in Abrede gestellt wird.“[22]
Unmöglichkeit weiblichen Schreibens
Claudia Liebrand rückt mit dem Blick auf die „vereiste Schreib-Rechte“ das Selbstverständnis der Schriftstellerin in den Mittelpunkt. Zentral ist erneut der Raum, in den sich das Alter Ego des Fräuleins flüchtet: das Archiv. Es ist der Ort langfristiger Aufbewahrung von Schriftstücken, für die sich die Gestalt zu interessieren scheint (vgl. V. 75 f.). Liebrand stellt fest: „Das Schatten-Ich, dem die Protagonistin folgt, ist also offensichtlich eines, das den Bereich von Pergament, Papier, Text für sich reklamiert, das im kulturellen Archiv zu Hause ist.“[23] Dort nimmt jedoch die rechte Hand, die den meisten Menschen als Schreibhand dient, dauerhaft Schaden. Liebrand wertet die Hand als „topisches Requisit poetologischer, künstlerischer Selbstreflexion“.[23] In der Ballade gestalte Droste die Schwierigkeit einer Frau, intellektuell oder künstlerisch tätig zu sein. Die junge Frau möchte durch die Kontaktaufnahme diesen ihr bislang unzugänglichen Selbstanteil in sich aufnehmen – mit der Folge des Stigmas einer stets eiskalten Hand, die nicht länger als Schreibhand taugt.[23]
Ausschluss aus der Gesellschaft
Im Tanz am Ende sieht Freund eine gelungene Integration des Fräuleins, räumt aber ein, dass es sich um einen „scheinbar harmonischen Balladenschluß“ handelt.[10] Steidele betont, das als „schön und wild“ (V. 101) beschriebene Fräulein wirke überspannt, verrückt. Der letzte Vers betone seine Tollheit, also seinen Wahnsinn, was einer gesellschaftlichen Integration entgegenstehe.[13] Sofern die gesellschaftlichen Konventionen erfüllt werden, hält Freund die soziale Einbindung für möglich, allerdings „um den Preis der vollen vitalen Existenz“.[10] Den „weiblichen Wunsch nach Ganzheit, nach Selbstbestimmung, nach Integration auch gesellschaftlich inkriminierter [beanstandeter] künstlerischer, intellektueller und erotischer Selbstanteile“[24] kann sich das Fräulein von Rodenschild nicht erfüllen. Wenn die junge Frau ein Teil der Gesellschaft bleiben will, muss sie ihre individuellen Bedürfnisse unterdrücken.
Literatur
- Maren Conrad: Das Fräulein von Rodenschild. In: Cornelia Blasberg, Jochen Grywatsch (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. De Gruyter, Berlin/Boston 2018, ISBN 978-3-11-035194-1, S. 384–387.
- Winfried Freund: Annette von Droste-Hülshoff: Das Fräulein von Rodenschild – Die phantastische Spiegelung einer Bewußtseinskrise. In: Wirkendes Wort. Nr. 1, 1981, ISSN 0935-879X, S. 11–17.
- Claudia Liebrand: Vereiste Schreib-Rechte. Annette von Droste-Hülshoffs „Fräulein von Rodenschild“. In: Der Deutschunterricht. Nr. 3, 2006, ISSN 0340-2258, S. 34–41.
- Angela Steidele: „Als wenn du mein Geliebter wärest.“ Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750–1850. Metzler/Poeschel, Stuttgart 2003, ISBN 3-476-45313-8, doi:10.25819/ubsi/10016.
Weblinks
- Angela Steidele: Eine von uns. Annette von Droste-Hülshoff und ihre genderfluide Liebes- und Naturlyrik. (Podcast vom 17. Dezember 2022, ab 17. Min.)
Einzelnachweise
- Annette von Droste Hülshoff: Gedichte. In: Bodo Plachta, Winfried Woesler (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff. Sämtliche Werke. Band 1. Insel, Frankfurt/Leipzig 2004, ISBN 3-458-17185-1, S. 384.
- Freund 1981, S. 11.
- Vollständiger Balladentext bei Wikisource verfügbar.
- Conrad 2018, S. 385.
- Freund 1981, S. 12.
- Conrad 2018, S. 387.
- Steidele 2003, S. 322.
- Freund 1981, S. 12 f.
- Steidele 2003, S. 323.
- Freund 1981, S. 15.
- Bruna Bianchi: Verhinderte Überschreitung. In: Ortrun Niethammer, Claudia Belemann (Hrsg.): Ein Gitter aus Musik und Sprache. Schöningh, Paderborn u. a. 1993, ISBN 3-506-76109-9, S. 23.
- Steidele 2003, S. 327.
- Steidele 2003, S. 324.
- Steidele 2003, S. 325.
- Steidele 2003, S. 328. Herv. A.S.
- Steidele 2003, S. 328.
- Steidele 2003, S. 329.
- Steidele 2003, S. 330 f.
- Freund 1981, S. 14.
- Steidele 2003, S. 337. Dort auch Verweise auf weitere Filme. Le Fanus Novelle ist die Vorlage für die Webserie Carmilla (2014) und den gleichnamigen Kinofilm (2017).
- Terry Castle 1993, zit. nach Steidele 2003, S. 338.
- Steidele 2003, S. 337 f.
- Liebrand 2006, S. 40.
- Liebrand 2006, S. 41.