Chatham House

Das 1920 gegründete Chatham House, bis 2004 auch als Royal Institute of International Affairs bekannt, ist eine private Denkfabrik mit Sitz in London im Vereinigten Königreich. Seine Mitglieder befassen sich in Studienprogrammen, Arbeitsgruppen, Runden Tischen, Konferenzen und Seminaren mit aktuellen Fragen und Analysen des politischen Zeitgeschehens auf internationaler Ebene. Die hier erstellten Expertisen und Lösungsempfehlungen können durch die international tätigen Mitglieder weltweit gezielt verbreitet werden. Einzelne Schlüsselprojekte werden von der Rockefeller-Stiftung, der Bill & Melinda Gates Foundation, der Konrad-Adenauer-Stiftung, der NATO oder der EU finanziert und gesponsert.

Chatham House
(RIIA)
Logo
Rechtsform Private Policy Think Tank
Gründung 1920
Sitz London
Personen John Major, Lord Ashdown
Umsatz 24.444.000 Pfund Sterling (2021)
Beschäftigte 193 (2021)
Mitglieder 2770 Einzelpersonen, 75 Großunternehmen, 263 weitere Firmen
Website www.chathamhouse.org

Neben den Corporate Members, bestehend aus 75 Großkonzernen, Investmentbanken, Energiekonzernen und 263 weiteren Firmen, zählt das Chatham House derzeit 2.770 international tätige Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Diplomatie, Wissenschaft, Politik und Medien aus 75 Ländern zu seinen Mitgliedern und verfügte im Jahre 2012 über ein aus Wirtschaft, Stiftungen und Mitgliederbeiträgen generiertes Budget von 12 Mio. Euro.

Die unter der Schirmherrschaft von Charles III. stehende private, nichtstaatliche Non-Profit-Organisation ist Begründer der weltweit angewandten Chatham House Rule. Als Präsidenten fungieren führende Parteivertreter der drei Regierungsparteien im britischen Parlament.

Die vom Chatham House publizierten International Affairs und The World Today zählen zu den führenden Fachorganen der Internationalen Politik.

Eingang des Chatham House, 10 St. James’s Square in London

Geschichte

Chatham-House-Gründer Lord Robert Cecil

Die Gründung des Instituts geht auf die Initiative britischer und amerikanischer Delegierter unter Leitung von Lionel Curtis zurück, die im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz 1919 ein anglo-amerikanisches Institut für Auswärtige Beziehungen vorschlugen, das sich mit dem Studium internationaler Probleme befassen sollte, mit dem Ziel, in der Zukunft Kriege zu verhindern. Tatsächlich wurde im Juli 1920 das British Institute of International Affairs unter dem Vorsitz von Robert Cecil und mit Lionel Curtis als Ehrensekretär gegründet, ein Jahr später eröffnete die amerikanische Delegation der Friedenskonferenz das US-Pendant, den Council on Foreign Relations in New York City.[1]

1923 wurde dem Institut das Chatham House am St. James’s Square No.10 im Londoner Stadtbezirk City of Westminster durch Oberst Reuben Wells Leonard geschenkt, wo es seither residiert. Das Chatham House ist das ehemalige Wohnhaus der britischen Premierminister William Pitt der Ältere, Edward Stanley und William Ewart Gladstone und befindet sich in direkter Nachbarschaft zum Hauptsitz des Energiekonzerns BP sowie zu wichtigen Ministerien der britischen Regierung.[2]

Das Royal Institute of International Affairs war laut Kees Van Der Pijl eine wichtige Institution bei der Herausbildung einer transnationalen Klasse von protestantischen, englischsprachigen Weißen.[3]

Seit September 2004 ist „Chatham House“ der offizielle Name des Royal Institute of International Affairs[Anm. 1] und war zusammen mit dem Council on Foreign Relations Vorbild der 1955 gegründeten deutschen Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).[4]

Im April 2022 wurde „Chatham House“ in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft.[5]

Aktuell

Bundesbank-Präsident und BIZ-Direktor Jens Weidmann hielt im März 2011 die Rede „Rebalancing Europe“ im Chatham House

Das Chatham House wurde 2012 in den renommierten Global Go-To Think Tank Index Rankings der Pennsylvania State University hinter der Brookings Institution als zweitwichtigste von weltweit 6.545 relevanten Denkfabriken, und zum vierten Male in Folge als wichtigste Denkfabrik außerhalb der USA geführt.[6]

Führende internationale Politiker, Staatsgäste, Finanzbeamte, Vorstandsvorsitzende der Großkonzerne, UN-, IWF- und Weltbankfunktionäre sind regelmäßig zu Diskussionen und Vorträgen im Chatham House zu Gast. Hochkarätige Gäste im Jahre 2011 waren neben der IWF-Direktorin Christine Lagarde, dem Präsidenten des Europäischen Rates Herman van Rompuy, dem britischen Außenminister William Hague und dem jordanischen König Abdullah II. bin al-Hussein, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und der Deutsche-Bundesbank-Präsident und Direktor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, Jens Weidmann.[7]

Präsidenten der privaten Denkfabrik sind die Parteivorsitzenden der drei Regierungsparteien im britischen Parlament, der ehemalige Premierminister der Konservativen Partei John Major, der ehemalige UN-Repräsentant und Vertreter der Liberaldemokraten Lord Ashdown, sowie die britische Generalstaatsanwältin Baroness Patricia Scotland aus dem Schattenkabinett der Labour Party.

Mitgliedschaft

Die derzeit 2.770 Mitglieder entrichten einen jährlichen statusabhängigen Mitgliedsbeitrag zwischen 120 und 260 £. Konzerne und Firmen haben die Möglichkeit zwischen einer Partnerschaft, einer Major Corporate Membership und einer Standard Corporate Partnership. Die jährlichen Gebühren betragen 2.750 £ für die Standard-Mitgliedschaft und 12.500 £ für eine Major-Mitgliedschaft. Die Kosten für eine Partnership werden nicht veröffentlicht.

Corporate Partners des Chatham House sind u. a. die von John D. Rockefeller gegründeten BP, ExxonMobil und Chevron, sowie Royal Dutch Shell, Statoil, das britische Verteidigungsministerium und das Außenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate.

Zu den Major Corporate Members zählen sich u. a. die drei weltgrößten Rohstoffabbaukonzerne Rio Tinto Group, BHP Billiton und Anglo American, die staatlichen Erdölunternehmen aus Kuwait und Saudi-Arabien, die US-Botschaft, die Investmentbanken Goldman Sachs, HSBC und Morgan Stanley, die Großbanken Deutsche Bank, Barclays und die Royal Bank of Scotland, einer der weltgrößten Versicherungskonzerne AIG, die Rüstungskonzerne BAE Systems und Lockheed Martin, die weltgrößten Anwaltskanzleien Freshfields Bruckhaus Deringer und Linklaters, die weltgrößten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften KPMG und PricewaterhouseCoopers, der weltgrößte Managementberatungsdienstleister Accenture, die weltgrößte Nachrichtenagentur Thomson Reuters, die Medienkonzerne BBC und Bloomberg, der weltgrößte Tabakkonzern British American Tobacco, die City of London, Glaxo Smith Kline sowie Vodafone.

Als Corporate Members sind neben 68 Botschaften aus aller Welt u. a. folgende Firmen vertreten: die italienische Zentralbank Banca d’Italia, der weltgrößte Chemiekonzern BASF, Boeing, CBS News, Citigroup, die Wall-Street-Anwaltskanzlei Davis Polk & Wardwell LLP, der weltgrößte Diamantenproduzent- und Händler De Beers, der weltgrößte Rohstoffhändler Vitol, der weltgrößte Erdölexplorateur Schlumberger, der Rüstungskonzern EADS, Google, Mondelēz International, die UBS-Bank, die traditionsreiche Investmentbank Warburg Pincus und die Weltbank.[8]

Leitungsgremien des Chatham House

Direktoren

Chatham House-Präsident John Major

Council / Beirat (Auswahl)

  • Roderic Lyne; von 1970 bis 2004 britischer Diplomat, aktuell Seniorberater bei JPMorgan Chase & Co.
  • Greg Baxter; Global Head of Mobile Strategy der Citigroup, ehemaliger Vorstand Booz & Company
  • Stuart Popham;stellvertretender Vorsitzender der EMEA Banking, Citigroup
  • John Llewellyn, Llewellyn Consulting, ehemaliger Senior-Wirtschaftspolitikberater bei Lehman Brothers
  • Alastair Newton; verantwortlicher politischer Analyst, Investmentbank Nomura International plc
  • Andrew Fraser; Seniorberater der Mitsubishi Corporation, ehemaliger Vorstandsvorsitzender bei Investmentfirma Invest UK
  • Martin Giles; US-Korrespondent der Wirtschaftszeitschrift The Economist
  • Xan Smiley; Redakteur für den Mittleren Osten und Nordafrika bei The Economist
  • Caroline Wyatt, BBC-Korrespondentin für Verteidigungspolitik

Senior Advisers / Hauptberater (Auswahl)

Chatham-House-Regel

2012 Chatham House Prize für Moncef Marzouki und Scheich Ghannuschi

Chatham House ist für die Etablierung einer nach dem Institut benannten Verschwiegenheitsregel bekannt, der Chatham House Rule, deutsch Chatham-House-Regel. Diese Regel wurde 1927 aufgestellt; sie besagt, dass die Teilnehmer an Seminaren und Diskussionsrunden freien Gebrauch von den Informationen, die sie erhalten haben, machen, aber nicht die Identität und Zugehörigkeit eines Redners oder anderer Teilnehmer preisgeben dürfen. Die Regel gilt zum Beispiel bei Konferenzen und Sitzungen der führenden US-amerikanischen Denkfabrik Council on Foreign Relations und bei den jährlich stattfindenden Bilderberg-Konferenzen.[11] In offizieller deutscher Übersetzung besagt sie:[12]

„Bei Veranstaltungen (oder Teilen von Veranstaltungen), die unter die Chatham-House-Regel fallen, ist den Teilnehmern die freie Verwendung der erhaltenen Informationen unter der Bedingung gestattet, dass weder die Identität noch die Zugehörigkeit von Rednern oder anderen Teilnehmern preisgegeben werden dürfen.“

Commons: Chatham House – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Geschichte des Chatham House aus dem Jahresbericht des Chatham House 2013/2014 (Memento vom 11. Februar 2015 im Internet Archive) (PDF-Datei; 3,51 MB)
  2. About us:What we do at Chatham House (PDF-Datei; 3,51 MB)
  3. Kees van der Pijl: „Private Weltpolitik“ – Zur Geschichte der liberalen Weltordnung. In: Tanja Brühl: Die Privatisierung der Weltpolitik: Entstaatlichung und Kommerzialisierung im Globalisierungsprozess, Bonn 2001, S. 88–91.
  4. Daniel Eisermann: Außenpolitik und Strategiediskussion. In´: Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955–1972. Oldenbourg Verlag, München 1999, Band 66, S. 62ff, ISBN 3-486-56338-6.
  5. Генпрокуратура РФ объявила «нежелательной организацией» британский Королевский институт международных отношений («Чатем-Хаус»). In: Meduza. 8. April 2022, abgerufen am 8. April 2022 (russisch).
  6. James G. McGann: 2011 Global Go To Think Tanks Report and Policy Advice. (PDF; 1,5 MB) In: Internetseite des TTCSP - Think Tanks and Civil Societies Program, University of Pennsylvania. Think Tanks and Civil Societies Program, International Relations Program, University of Pennsylvania, 23. Januar 2012, S. 34–36, archiviert vom Original am 28. Februar 2013; abgerufen am 9. Oktober 2016 (englisch).
  7. Jahresbericht des Chatham House 2011/2012, Seite 3, Seite 23 (Memento vom 18. Oktober 2012 im Internet Archive) (PDF-Datei; 3,51 MB)
  8. Jahresbericht des Chatham House, Seite 40 (Memento vom 18. Oktober 2012 im Internet Archive) (PDF-Datei; 3,51 MB)
  9. Chatham House-Vita: Dr. Robin Niblett (Memento vom 19. Januar 2015 im Internet Archive)
  10. Vita: DeAnne Shirley Julius von Bloomberg businessweek
  11. Trittin nach Bilderberg-Konferenz in Erklärungsnot Die Welt vom 5. Juni 2012
  12. Chatham House: Chatham House Rule Translations. Abruf am 14. September 2012.

Anmerkungen

  1. Royal Institute of International Affairs ist jedoch auch nach 2004 der formelle Name im Rechtsverkehr und in finanziellen Angelegenheiten.

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