Café Koralle

Das Café Koralle bzw. die Café Koralle Bar war ein bekanntes Kaffeehaus im 9. Wiener Gemeindebezirk, das sich in dem von Hugo Mandeltort geplanten Haus Porzellangasse 39-43[1] befand und aus einem 400 m² großen Ecklokal, einer 250 m² großen Tanz-Bar im Souterrain sowie einer 70 m² großen Sommer-Terrasse („Schanigarten“) bestand.

Der Großteil des Areals zwischen den Häusern Porzellangasse 39, 41 und 43 war Schanigarten des „Café Koralle“, heute dient es als Parkplatz

Geschichte

Das „Café Koralle“ in der Porzellangasse 39 wurde 1925, als es noch „Café Industrie“ hieß, von Johann und Gisela Weigel übernommen, bis 1968 als Familienbetrieb geführt und anschließend bis 1978 verpachtet, bevor es als Folge des „Kaffeehaussterbens“ mit 31. Mai 1978 gesperrt wurde.

Das vom Architekten Bruno Buzek, seiner späteren ersten Ehefrau Susi Weigel sowie Franz von Zülow, der in der Porzellangasse 41 sein Atelier hatte, künstlerisch gestaltete „Café Industrie“ bestand aus einem 400 m² großen Ecklokal, das 400 Besuchern Platz bot, einer 250 m² großen Tanz-Bar im Souterrain, die 200 Besucher fassen konnte sowie einer 70 m² großen Sommer-Terrasse („Schanigarten“), die 70 Personen Platz bot, da das in den Jahren 1912/13 von Hugo Manhardt errichtete Haus eine „besondere Bauform des Straßenhofes“ hat: „(zwischen symmetrische Seitentrakte wird ein von der Straßenflucht zurückweichender Bauteil gesetzt, wodurch ein sackgassenförmiger Hof entsteht), dessen historisches Vorbild die Palastfront mit Ehrenhof ist. Diese Verbauung ergab längere Fensterfronten an der (gegenüber der hinteren Hoffront) weitaus begehrteren Straßenseite und damit eine bessere Nutzung des Grundstücks“.[2]

Bruno Buzeks Neugestaltung des Kaffeehauses wurde im Oktober 1935 in der Neuen Freien Presse detailliert besprochen:

„Das Café ‚Industrie‘ in der Porzellangasse ist dank einer völligen Neugestaltung zum Tagesgespräch des Bezirkes geworden. Architekt Bruno Buzek hat durch originelle Ideen eine von der Schablone völlig abweichende Arbeit geleistet, Prächtig die farbenfrohen Tönungen der Wände, die nahezu verschwenderische Beleuchtung, die alle Räume in eine Flut angenehmen Lichtes taucht, und die behaglichen Lederfauteuils. Eine besondere Anlage versorgt alle Räume mit angenehm temperierter Frischluft aus dem großen Luftreservoir des Liechtensteinparks und hält das ganze Lokal völlig zug- und rauchfrei. Den Spielern steht ein großer Billardsalon und zwei Spielzimmer zur Verfügung, in denen ein neues Material für die Wandverkleidung erstmalig Verwendung gefunden hat. Den Wandschmuck besorgte Maler Professor Franz von Zülow in mehreren Gruppen lustiger und farbenfroher Bilder. Als besondere Attraktion des Hauses hat Architekt Buzek die Kongo-Diele geschaffen, wo täglich von 9 Uhr abends bis 4 Uhr früh die Stunden wie im Traume verfliegen. Die ganze Ausstattung mit Wandmalereien von Susi Weigel macht ihren erotischen Vorbildern alle Ehre und liefert bei Musik und Tanz den Rahmen für wirklich vergnügte Unterhaltung, die Jules Carpe mit seiner Kongoband unermüdlich entfacht. Die kürzlich stattgefundene Eröffnung brachte einen durchschlagenden Erfolg und hat bewiesen, dass das Café „Industrie“ ein Heim guter Gesellschaft ist.[3]

Inserat der „Parteigenossen Hans und Eugen Weigel“ im „Völkischen Beobachter“, dass sie das „Kaffee Industrie“ (unter Anspielung auf Hitlers zweiten Regierungssitz) in „Kaffee Berchtesgaden“ umbenannt haben und jüdische Gäste nicht mehr bedienen.

Anlässlich des Anschlusses Österreichs haben die „Parteigenossen Hans und Eugen Weigel“ am 19. März 1938 im „Deutschen Telegraf“ und am 20. März 1938 im „Völkischen Beobachter[4] inseriert, dass sie ihr „Kaffee Industrie“ in „Kaffee Berchtesgaden“ umbenannt haben und jüdische Gäste nicht mehr bedienen.[5] Die Anspielung auf „Berchtesgaden“, Hitlers zweiten Regierungssitz, war wie „Parteigenosse“ eine Nazi-Chiffre und erfolgte ohne Not und Zwang aus Verehrung für Adolf Hitler. Allerdings wurde der politisch punzierte Name „Kaffee Berchtesgaden“ ab Herbst 1939 in Inseraten kleingedruckt und im Lauf der Zeit durch das größer gedruckte „Kaffee Koralle“ verdrängt: „Kaffee · Restaurant · Berchtesgaden · Koralle“. Hans Weigel sah nach dem Krieg seinen Fehler ein und begegnete auch seinen jüdischen Mitbürgern, die den Großteil des Kaffeehaus-Publikums bildeten, mit Respekt.

Firmen-Briefkopf: „Kaffee · Restaurant · Berchtesgaden · Koralle“

Die „Koralle“ („Charakteristisch waren die schwarz gebeizten Stühle mit roten Gurten und schwarzen Pölstern.“[6]) war den Wienern nicht nur wegen des großen Angebotes an in- und ausländischen Zeitungen und Zeitschriften, den Modeheften sowie der Tanzbar, die zwischen 9 Uhr abends und 4 Uhr früh geöffnet war, ein Begriff, wie sich Meta Menz, die frühere „Mary Wigman“-Mitarbeiterin und spätere Gattin des „Koralle“-Cafétiers Hans Weigel, erinnert hat:

„Junge Leute studierten in der Koralle, Redakteure schrieben ihre Artikel lieber in der Koralle, als im Verlag der „Kleinen Zeitung“ in der Seegasse. Die Gäste konnten sogar auf Wunsch aus dem Kaffeehaus geweckt werden. Der Schriftsteller Leo Perutz war täglicher Gast (sehr heikel in der Farbskala seines Kaffees), zu den Besuchern der Diele[Anm. 1] gehörten Maria Eis, Werner Krauß, Franz Theodor Csokor, Eugen Roth, Oskar Werner etc. General Lehmann mit seinem täglichen Bekanntenkreis. Mit der klassischen Kapelle von Wilhelm Schild, Viktor Prinz, Emo Weihovsky wurde ein sehr kultiviertes Publikum gewonnen.[7]

Familiäres

Gisela Weigel (1875–1953) war die Tochter des Wiener Restaurantbesitzers Johann Hauswirth (1838–1915)[8] und ältere Schwester des 1914 bei der Körting-Katastrophe tödlich verunglückten Hauptmannes Hans Hauswirth (1878–1914). Gemeinsam mit ihrem Mann Johann Weigel (1867–1949) betrieb sie seit 1925 das Wiener „Café Industrie“, das später von ihrem ältesten Sohn Hans Weigel (1902–1978) geführt wurde. Die älteste Tochter Martha Weigel (1903–1986) hat in den 1920er-Jahren bei der Wiener Gesangspädagogin Fritzi Lahr-Goldschmid Gesang studiert und ist 1929 unter anderem im Schubert-Saal des Wiener Konzerthauses aufgetreten,[9] bevor Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg sie zur Mitarbeit im Familienbetrieb genötigt haben. Die jüngste Tochter Susi Weigel (1914–1990), die an der Wiener Hochschule für angewandte Kunst und an der Wiener Akademie der bildenden Künste studiert hat, ist heute vor allem durch ihre langjährige Zusammenarbeit mit Mira Lobe, deren Kinderbücher sie illustriert hat, bekannt. Im Jahr 1915 nahm Gisela Weigel ihre Nichte Vera Zahradnik (1908–1991), die seit 1913 Halb- und seit 1915 Vollwaise war, als Pflegetochter in den gemeinsamen Haushalt auf. Zahradnik wurde Meisterschülerin der Tänzerin Grete Wiesenthal und ging in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre zu Mary Wigman nach Dresden und begleitete sie 1932 auf ihrer USA-Tournee. Meta Menz (1906–1990), eine ihrer Kolleginnen bei „Mary Wigman“, hat um 1940 Zahradniks Cousin und Pflegebruder Hans Weigel geheiratet.[10]

Literarisches Vorkommen

In Thomas Bernhards Werk

Der Schriftsteller Thomas Bernhard erwähnt in seinem Roman „Der Untergeher“ (1983) die „Koralle“ als Ort, wo die Protagonisten halbe Nächte zugebracht haben. Darüber hinaus nennt Bernhard in seiner Fragment gebliebenen, früheren Fassung der Erzählung „Gehen“ die „Koralle“ als „Cafe Coralle“, welches die Protagonisten der Erzählung zwei Jahre zuvor besucht haben und bei ihrem Gehen eigens aufsuchen, aber doch nicht betreten: „Hier gehen die beiden bis zum Cafe »Coralle« (das damals wirklich existierte: Porzellangasse 39), in dem sie vor zwei Jahren zuletzt gewesen sind und das aufzusuchen sie nicht wagen (woran die Erwägungen zum Gasthaus Obenaus aus der Endfassung anklingen; vgl. GE, 80), weil es sie allzu sehr erschöpfen würde – warum, bleibt unklar. Von der Coralle weg geht es zum Kleiderhaus »Zum Eisenbahner«, vor dem die beiden längere Zeit verharren, um den vis-avis gelegenen Platz vor dem Franz-Josefs-Bahnhof zu beobachten […]. Der Schauplatz ist detailreicher strukturiert und nicht gleichsam auf die Nennung von Verkehrsflächen und Örtlichkeiten reduziert: Etwa wird das Cafe Coralle zwar ebenso wenig wie das Gasthaus Obenaus aus dem Endtext explizit beschrieben, doch wird immerhin so etwas wie eine Szene – durch die Nennung von Elementen dieser Szene –, die eben ein Wiener Kaffeehaus vorstellen lässt, generiert.“[11][12]

In autobiografischen und fiktionalen Texten

Das „Café Koralle“ und die „Koralle“-Bar sind in den vergangenen Jahren immer wieder in autobiografischen[13] und fiktionalen[14] Texten erwähnt worden. Beispielsweise erwähnt der Wiener Buchhändler Georg Fritsch wie er mit dem Schriftsteller Reinhard Priessnitz und dem Architekten Luigi Blau Mira Lobes Tochter Claudia Lobe in der „Koralle“-Bar besucht hat: „Derart adjustiert sind Reinhard Priessnitz, Luigi Blau und ich in der 'Koralle' angerückt, einer Nachtbar in der Porzellangasse, unter dem gleichnamigen Kaffeehaus, das in den 30er Jahren von Susi Weigel ausgestattet worden ist (ihr Bruder hat es betrieben), wo Claudia Lobe, angehende Schauspielerin in Kleve am Niederrhein, in den Ferien als Barfräulein gewirkt hat.“[15]

Traude Veran erinnert in dem Gedicht „korallen in porzellan“ an das Tanzcafé „Koralle“, das von Susi Weigel mit einigen afrikanischen Strohhütten ausgestattet wurde.[16]

Literatur

  • Susanne Blumesberger: Aufarbeitung des Nachlasses und der Biografie der Grafikerin und Illustratorin Susi Weigel. Wien, Januar 2008. Online: Teil 1 (enthält auf den Seiten 4 und 11ff einige Informationen über das Café Koralle) und Teil 2. Bilder aus Susi Weigels Nachlass (enthält auf den Seiten 144 und 160f. einige von Susi Weigel gestaltete Werbemittel für das Café Koralle).
  • Helfried Seemann und Christian Lunzer (Hrsg.): Kaffeehaus Album 1860–1930. Mit vielen zeitgenössischen Photographien und Feuilletons aus der Wiener Zeitschrift Die Bühne. Wien 2000 (Enthält zwei Fotografien des Café Koralle).

Einzelnachweise

  1. Das Haus hatte einige bekannte Bewohner: An der Adresse Porzellangasse 39 wohnte der Theologe und Philosoph Walter Kirchschläger, der Psychoanalytiker Hermann Nunberg, die Cembalistin Julia Menz, die Mary-Wigman-Mitarbeiterin Meta Menz, der Architekt Anton Potyka, die Kinderbuch-Illustratorin Susi Weigel und die Grete-Wiesenthal-Meisterschülerin Vera Zahradnik (alias Wera Weigel), im Haus Porzellangasse 41 Franz von Zülow und im Haus Porzellangasse 43 der Verleger Adolf Josef Storfer.
  2. Architektenlexikon Wien 1770–1945: Hugo Mandeltort (Manhardt).
  3. Das Café "Industrie" in neuem Gewande. In: Neue Freie Presse. 6. Oktober 1935. S. 11.
  4. Hans und Eugen Weigel: Nazi-Inserat für ihr „Kaffee Berchtesgaden“.Völkischer Beobachter“. 20. März 1938 S. 10.
  5. Hans und Eugen Weigel: Nazi-Inserat in: „Deutscher Telegraf“. 19. März 1938, S. 3.
  6. Helfried Seemann und Christian Lunzer (Hrsg.): Kaffeehaus Album 1860–1930. Mit vielen zeitgenössischen Photographien und Feuilletons aus der Wiener Zeitschrift Die Bühne. Wien 2000.
  7. Meta Weigel: Brief vom 26. August 1978 an Hans Weigel. Nachlass Hans Weigel in der Wienbibliothek.
  8. Johann Hauswirth.“ In: „Illustrierte Kronen Zeitung“. 2. Juli 1915. S. 11.
  9. Konzertabend mit Hans Toifl (Klavier), Martha Weigel (Gesang) und Karl Lahr (Klavier). 16. April 1929, 19:30 Uhr, Schubert-Saal.
  10. Andreas Weigel: Off topic: Wien, Hohe Warte 29. Anmerkungen zur einstigen Wiener Villa der Familie Hans und Gisela Weigel.
  11. Stefan Winterstein: Reduktionen, Leerstelle, Widersprüche: Eine Relektüre der Erzählung Gehen von Thomas Bernhard. In: Martin Huber, Manfred Mittermayer, Wendelin Schmidt-Dengler, Svjetlan Lacko Viduliö (Hg.): Thomas Bernhard Jahrbuch 2004. Wien: Böhlau 2005. S. 31–54. 45f.
  12. Stefan Winterstein: Thomas Bernhard: „Gehen“. Eine Orientierung. In: Beiträge zu Geschichte und Gegenwart des IX. Bezirks. Mitteilungsblatt des Bezirksmuseums Alsergrund. Dezember 2002. S. 4 – 31, hier 21.
  13. Beispielsweise Kurt Gödel: Dokumente und historische Analysen (2002), Karlheinz Hackl, Meine zwei Leben. Ein ziemliches Theater (2009), Michael Horowitz, Das goldene Wien. Eine ambivalente Liebeserklärung (2005), Erwin Javor, Ich bin ein Zebra. Eine jüdische Odyssee (2017), Viktor Matejka, Das Buch Nr. 3 (1993) und Hans Veigl, Tränen und Gelächter. Kleinkunst im Wiederaufbau (2009).
  14. Beispielsweise Philip Kerr, Alte Freunde - neue Feinde. Die Berlin-Trilogie. Historischer Kriminalroman (1993), Susanna Kubelka, Adieu Wien, Bonjour Paris (2012), Shelly Kupferberg, Isidor. Ein jüdisches Leben (2022) und Gudrun Seidenauer, Libellen im Winter. Roman (2023).
  15. Georg Fritsch: „Preisgabe xxix“ (2023).
  16. Traude Schleichert-Veran: korallen in porzellan. In: Beleben öffentlicher Plätze – Identität stiften mit Poesie. S. 6.

Anmerkungen

  1. Diele nimmt Bezug auf jene Jahre, in denen die Koralle sich als Wein-Diele bewarb. – Siehe: (Annonce:): KORALLE, die stimmungsvolle Wein-Diele. In: Wiener neueste Nachrichten, Nr. 6751/1941 (XVII. Jahrgang), 15. Dezember 1941, S. 5, Mitte unten. (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/wnn

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