Bildbetrachtung

Unter Bildbetrachtung (Bildanalyse, Bildinterpretation im weiteren Sinn, Werkbetrachtung) versteht man eine systematische Untersuchung eines Bildes (Gemälde, Fotografie, Film, Werbung, Plastik, Architektur). Aus der kunsthistorischen Forschung abgeleitet gibt es verschiedene, etablierte Analysemethoden: biographisch-psychologisch, formal analytisch, hermeneutisch, semiotisch, ikonografisch-ikonologisch, rezeptionsästhetisch, sozial historisch oder werkimmanent.[1]

Struktur der Bildbetrachtung

Die Methoden der Bildbetrachtung sind dabei oft ähnlich strukturiert. Zunächst kann ein erster, spontaner, subjektiver Eindruck vorangestellt sein. Dann folgen drei Hauptteile: (1.) Beschreibung (Einleitung), (2.) Analyse (Hauptteil) und (3.) Interpretation (im engeren Sinn) (Schluss). Je nachdem, in welchem Zusammenhang die Bildbetrachtung erfolgt – zum Beispiel in Kunstgeschichte, Künstlermonographien, Museen oder Schule – lassen sich aus der komplexen Menge der Aspekte einzelne Schwerpunkte auswählen oder die Reihenfolge ändern.

Erster Eindruck

In einem ersten Schritt der Bildanalyse ist es notwendig, das Bild ausgiebig und intensiv zu betrachten bzw. auf sich wirken zu lassen. Es geht um intuitive, subjektive Verstehensversuche ohne vorgegebenes analytisches Raster.[2] Man stellt zum Beispiel fest, welche Fakten bei der Betrachtung auffallen und welche Aspekte hervorstechen. Zu bedenken ist dabei, dass man auch die unscheinbareren Begebenheiten notiert bzw. dokumentiert.

Beschreibung

In der Regel werden zunächst die allgemeinen Bilddaten genannt: Künstler (evtl. mit Lebensdaten), Bildtitel, Entstehungszeit, Technik (z. B. Zeichnung, Radierung, Gemälde, Fotografie), Bildmaße und Aufbewahrungsort. Dann werden Format (z. B. Hochformat, Quadrat, liegendes Oval) und Bildgattung bzw. Sujet (z. B. abstraktes Bild, Landschaft, Stillleben) benannt.

Fotografie einer verschneiten Berglandschaft.
Im Vordergrund Schneefläche und Zäune, im Mittelgrund Nadelbäume und Hügel, im Hintergrund bewaldete Berge und blauer Himmel.

Als nächster Schritt folgt eine möglichst detailgenaue Beschreibung des Werkes, eine Beschreibung des gegenständlichen und formalen Bestandes. Dies sollte in geordneter und bild-immanenter Reihenfolge geschehen, etwa in der Reihenfolge vom Vordergrund über den Mittelgrund (= Motivebene) zum Hintergrund oder ausgehend von den zentralen Bildobjekten nach außen oder einfach von links nach rechts. Wichtig ist meist die Beschreibung der Personen: Geschlecht, Aussehen, Alter, Statur, Haltung, Mimik, Gestik, Blickbeziehungen oder Kleidung. Daneben sind die Beschreibung des Orts der Handlung, die Beschaffenheit der Landschaft oder der Architektur wesentlich. Außerdem können ermittelt werden Zugänge zum Bild, Wege durch das Bild oder Blickführungen (Blickbewegungsregistrierung).

Analyse

Hier lassen sich zum einen Zusatzinformationen einholen und zum anderen die bildnerischen Mittel untersuchen. Dabei geht es nicht nur darum, diese zu benennen, sondern auch ihre Wirkung und Symbolik zu untersuchen. Eine aufsteigende Linie wirkt zum Beispiel meist hoffnungsvoll und optimistisch und ein auffallendes Rot kann Energie, Liebe oder Kampf symbolisieren.

Bildnerische Mittel

  • Punkt: Hier lassen sich die Positionen von Bildgegenständen ermitteln wie z. B. oben, unten, zentral im Loser’s Point oder an den Rand gedrückt. Bei mehreren ähnlichen Objekten oder Personen gibt es Flächenordnungsprinzipien wie Reihung, Rhythmus, Streuung, Ballung oder Raster.
  • Linie: Obgleich in einem Bild die möglichen Bewegungen eingefroren sind, wandern die Augen nach einem bestimmten Bewegungsmuster „in ihm umher“.[3] Sogenannte Bildhauptlinien können die Bewegungsmuster lenken: Man kann vier Linienausrichtungen bestimmen: aufsteigend, abfallend, horizontal und vertikal, daneben auch Wellenlinien oder Zickzacklinien. Ebenso können Blickrichtungen von dargestellten Personen den Betrachterblick lenken.
  • Form: Manchmal finden sich vorherrschende geometrische Grundformen im Bild wie Dreiecke, Kreise oder Vierecke. Die Kontur einer Form kann scharf begrenzt, unscharf oder durch eine Umrisslinie begrenzt sein (Cloisonismus). Daneben lässt sich die Darstellungsweise (der Abstraktionsgrad) untersuchen. Diese kann zum Beispiel abstrakt, verfremdet oder wirklichkeitsgetreu sein.
  • Raum/Perspektive: Der Raum in einem Bild kann völlig flach sein, räumlich naturalistisch, disharmonisch, verdreht oder verzerrt. Meist spielt die Räumlichkeit als visuelle Simulation von Raum in einer zweidimensionalen Abbildung eine Rolle. Einfache Mittel sind Größenunterschiede, Höhenunterschiede oder Überschneidungen. Daneben kann die Körper- und Raumdarstellung auf der Bildfläche mathematisch exakt durch die darstellende Geometrie konstruiert sein, durch die Parallel- oder Zentralperspektive. Außerdem kann der Betrachter die Bildgegenstände von oben sehen (Vogelperspektive), in Augenhöhe (Normalperspektive) oder von unten (Froschperspektive).
  • Beleuchtung: Welche Lichtquellen (natürliche Sonne, Mond oder künstlicher Fackelschein, Lampen, Kerzen) sind auszumachen oder vorhanden? Wie ist die Licht- und Schattenwirkung (Plastizität) oder welche Bildelemente sind ins Licht bzw. in den Schatten gesetzt?
  • Farbe: Zunächst lassen sich das Gesamtkolorit, Farbschwerpunkte oder einzelne, vorherrschende Farben analysieren. Wie zeigen sich Helligkeit und Farbintensität? Dann lassen sich die Farbbeziehungen untersuchen. Es kann eine Monochromie vorherrschen oder es wird ein Farbspektrum aus Blautönen, Rottönen oder Grüntönen bevorzugt. (Farbenähnlichkeit/Farbfamilie). Wichtig sind häufig auch Farbkontraste.
  • Komposition: Die Komposition, der Bildaufbau bezeichnet das kunstvolle, mehr oder weniger bewusste Arrangement der bildnerischen Mittel auf der Bildfläche. Wichtige Kompositionsarten sind zum Beispiel Diagonalkomposition, Dreieckskomposition, der goldene Schnitt, Symmetrie, tektonische Komposition (bestimmt durch senkrechte und waagerechte Linien, ruhig und statisch wirkend) oder atektonische Komposition (bewegt und zufällig wirkend).[4]

Zusatzinformationen (Kontextwissen)

Zusatzinformationen können schriftliche Äußerungen der Künstler selbst sein, Künstlerbiografien oder Informationen zur Provenienz des Kunstwerks, zu Stilrichtung, historischem Hintergrund oder der Betrachtersituation. Mit ihrer Hilfe kann die Plausibilität der Interpretation geprüft und begründet werden oder es können Hinweise für weitere Lesarten gewonnen werden. Sinnvoll ist auch eine vergleichende Diskussion von Lesarten auf der Basis mehrere Analysen, die von verschiedenen Personen durchgeführt wurden.[5]

Interpretation

Aus der Zusammenfassung von Beschreibung und Analyse resultiert eine verstehende Auslegung, eine Aussage, Deutung bzw. Interpretation des Kunstwerkes. Ein Kunstwerk kann unter anderem der Aufklärung dienen, der Erkenntnis, dem Genuss, der Information, der Repräsentanz, aber auch der Manipulation. Insgesamt muss man die Mehrdeutigkeit (Polyfunktionalität) von Kunstwerken in Kauf nehmen. Es kann keine einzig richtige Interpretation geben. Es gibt nur besser oder schlechter begründbare.[6]

Siehe auch

Literatur

  • Régis Debray: Jenseits der Bilder. Eine Geschichte der Bildbetrachtung im Abendland. Rodenbach 1999 (bzw. 2. Aufl. 2007, Avinus Verlag), Originaltitel Vie et mort de l’image. Une histoire du regard en Occident, erschienen 1992 in Paris bei Gallimard.
  • Werner Faulstich (Hrsg.): Bildanalysen: Gemälde, Fotos, Werbebilder. Wissenschaftler-Verlag, Bardowick 2010, ISBN 978-3-89153-035-1. (opus.uni-lueneburg.de)
  • Gotthard Jedlicka: Anblick und Erlebnis. Bildbetrachtungen. Suhrkamp (Bibliothek Suhrkamp 29), Frankfurt am Main 1955
  • Konrad Lischka: Ikonographie und Ikonologie als Methoden kommunikationswissenschaftlicher Bildanalyse. Grin Verlag, München/ Ravensburg 2013, ISBN 978-3-640-32680-8.
  • Michael R. Müller, Jürgen Raab, Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Grenzen der Bildinterpretation (Wissen, Kommunikation und Gesellschaft). Springer, Berlin/ Heidelberg/ New York 2014, ISBN 978-3-658-03996-7.
  • Johannes Steinmüller: Bildanalyse: Von der Bildverarbeitung zur räumlichen Interpretation von Bildern. Springer, Berlin/ Heidelberg 2008, ISBN 978-3-540-79742-5.
  • R. Suckale, M. Wundram, I. F. Walther: Malerei der Welt. Eine Kunstgeschichte in 900 Bildanalysen. Band I: Von der Gotik zum Klassizismus. Köln 1995.
  • Theodor Volbehr: Bildbetrachtung. Eine Einführung in alle Stufen des Schulunterrichts. 1922.
  • Friederike Wiegand: Die Kunst des Sehens. Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung. 2. Auflage. Daedalus Verlag Joachim Herbst, Münster 2019, ISBN 978-3-89126-283-2.
  • Bildanalyse. Kunstunterricht.ch – Lehrmittel für Schweizer Kunstunterricht/ Bildnerisches Gestalten. Hrsg.: Thomas Schatz kunstunterricht.ch
  • Fachvokabular und Hilfen zur Bildanalyse. Abiturwissen Kunst, Stark Verlag 2012, S. 1–4 kunstimunterricht.de

Einzelnachweise

  1. Ralf Bertscheit: Bilder werden Erlebnisse. Verlag an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr 2001, ISBN 3-86072-652-8, S. 8.
  2. Winfried Marotzki, Horst Niesyto (Hrsg.): Bildinterpretation und Bildverstehen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-15106-1, S. 281 und 282.
  3. Genauer finden sich anhand der Aufzeichnungen des „Eye-Trackings “ hauptsächlich folgende Augenbewegungen; bestehend aus Fixationen (Punkte, die man genau betrachtet), Sakkaden (schnellen Augenbewegungen) und Regressionen bestehenden Blickbewegungen einer Person.
  4. Friederike Wiegand: Die Kunst des Sehens. Ein Leitfaden zur Bildbetrachtung. 2. Auflage. Daedalus Verlag Joachim Herbst, Münster 2019, ISBN 978-3-89126-283-2, S. 9699.
  5. Winfried Marotzki, Horst Niesyto (Hrsg.): Bildinterpretation und Bildverstehen. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-15106-1, S. 283 und 284.
  6. Johannes Eucker (Hrsg.): Kunstlexikon: Kompaktwissen für Schüler und junge Erwachsene. Stichwort: Bildbetrachtung. Verlag Scriptor, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-589-20928-3, S. 40 und 41.
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