Arbeitskreis Alternativ-Entwurf
Der Arbeitskreis Alternativ-Entwurf (vollständige Bezeichnung: Arbeitskreis deutscher, österreichischer und schweizerischer Strafrechtslehrer; auch bezeichnet als der „Arbeitskreis der späteren sog. Alternativprofessoren“),[1] ist ein Zusammenschluss von Strafrechtsprofessoren. Er erarbeitet und veröffentlicht Gesetzesvorschläge (sogenannte Alternativ-Entwürfe, abgekürzt AE) zu den unterschiedlichsten anstehenden Gesetzgebungsverfahren innerhalb des Strafrechts.[2]
Der Arbeitskreis, der sich zunächst aus zwölf deutschen und zwei schweizerischen, seit 1987 auch aus österreichischen Strafrechtsprofessoren zusammensetzt, besteht heute aus zwei Strafrechtsprofessorinnen und 17 Strafrechtsprofessoren, die Lehrstühle in Deutschland, Österreich und der Schweiz innehaben.[3]
Bis heute verfolgt er das Ziel, durch einen „möglichst hierarchiefreie[n] Austausch von Rechtsfragen [...] die konsentierte rechtspolitische Vorstellung in konkreten Gesetzesvorschlägen zu komprimieren und diese damit auf politischer Ebene auch durchsetzbar zu machen. [... Sein] Hauptanliegen [besteht darin], das geltende Straf-, Strafprozess- und Strafvollzugsrecht zu verbessern und zu reformieren“.[4]
Geschichte
Der Arbeitskreis ging 1964 aus den Auseinandersetzungen um die bundesdeutsche große Strafrechtsreform hervor, vor allem aus den Konflikten um den Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches, welcher als „E 62“ bekannt wurde. Dieser Entwurf, der u. a. noch die Zuchthausstrafe vorsah, galt vielen Strafrechtlern, insbesondere den jüngeren und „von der Vergangenheit unbelastete[n]“ als „rückwärtsgewandt und zu konservativ“. Sie gingen davon aus, „daß es die Aufgabe von uns Jüngeren sei, ein neues, rechtsstaatlich-liberales, auf den Grundlagen der modernen Reformbewegung beruhendes Strafrecht zu schaffen“.[5]
Auf Initiative des Schweizerischen Strafrechtsprofessors Peter Noll und mit Begleitung Werner Maihofers legte der Arbeitskreis sodann den „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches Allgemeiner Teil“ vor.[6] Er fand so große Resonanz, dass er als Bundestagsdrucksache in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde.[7] Noch in der Rückschau auf das 50-jährige Bestehen des Arbeitskreises wurde dieser erste Alternativ-Entwurf als ein „Paukenschlag“ gefeiert, mit dem der Arbeitskreis „die kriminalpolitische Bühne“ betreten habe. Auch eile dem Arbeitskreis seitdem „eine liberal-rechtsstaatliche Tradition voraus; sie gilt sozusagen als sein Markenzeichen“.[8]
In den folgenden Jahren legte der Arbeitskreis Entwürfe zu den unterschiedlichsten Bereichen vor:
- 1968 zum politischen Strafrecht[9] und zu Sexualdelikten[10]
- in den Jahren 1970 und 1971 zu den Straftaten gegen die Person[11][12]
- Unter dem Eindruck der Contergan-Tragödie wurde in diesem zweiten Band die Einführung zweier neuer Straftatbestände vorgeschlagen:
- Vertrieb ungeprüfter Arzneimittel (§ 155 AE-StGB) und
- Vertrieb und Gebrauch ungeprüfter Chemikalien (§ 156 AE-StGB)
- Sie wurden letztlich nicht realisiert, hatten aber gleichwohl grundlegenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Arzneimittel- und Chemikalienrechts.[13]
- 1973 zum Strafvollzug[14]
- 1974 zur Entkriminalisierung des Ladendiebstahls[15]
- 1975 zur Regelung der Betriebsjustiz[16]
- 1977 zu Straftaten gegen die Wirtschaft[17]
- 1980 zum Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung[18]
- 1985 zur Reform der Hauptverhandlung[19]
- 1986 zu einem Gesetz über Sterbehilfe[20]
- 1992 zur Wiedergutmachung[21]
- 1996 zu Zeugnisverweigerungsrechten und Beschlagnahmefreiheit[22]
- 2001 zur Reform des Ermittlungsverfahrens[23]
- 2004 zu Strafjustiz und Medien[24]
- 2005 zu einem Gesetz über Sterbebegleitung[25]
- 2008 zur Reform der Tötungsdelikte[26]
- 2014 zur Beweisaufnahme[27]
- 2019 zu abgekürzten Strafverfahren im Rechtsstaat[28]
- 2023 zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung[29]
Literatur
- Matthias Jahn, Charlotte Schmitt-Leonardy: Unumstößliches Unmittelbarkeitsprinzip im Strafprozess? In: NJW 2022, S. 2721–2725.
- Heike Jung: Auf den Spuren des Strafprozesskonzepts der Alternativ-Entwürfe, in: GA 2016, S. 266–274.
- Kristina Raske-Al-Hammoud: Die strafgesetzliche Regelung der Sterbehilfe: eine vergleichende Analyse der Alternativentwürfe zur Sterbehilfe (AE-Sterbebegleitung) aus den Jahren 1986 und 2005 im Lichte der klinischen Praxis. Schriftenreihe Strafrecht in Forschung und Praxis (294). Kovač: Hamburg, 2014.
- Claus Roxin: Franz von Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs, In: ZStW 1969, S. 613–649.
- Jürgen Wolter: Formen des Vorermittlungsverfahrens und Reform des Ermittlungsverfahrens: zugleich: Grundlagen der Alternativentwürfe AE-ZVR und AE-EV. In: Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften. Forum Verlag Godesberg: Mönchengladbach 1999, S. 501–532.
Weblinks
Einzelnachweise
- So auf der Webseite des Arbeitskreises.
- Aufgrund der enormen thematischen Breite, die sich zudem über mehrere Jahrzehnte erstreckt, fehlt es naturgemäß an einer umfassenden Darstellung der Arbeit dieses Organs. Für einen kursorischen Überblick s. Heike Jung: Auf den Spuren des Strafprozesskonzepts der Alternativ-Entwürfe, in: GA 2016, S. 266–274. Vgl. ferner die chronologische Auflistung der bisherigen Alternativ-Entwürfe auf der Webseite des Arbeitskreises.
- Vgl. die Mitgliederliste.
- So auf der Webseite des Arbeitskreises.
- So erinnert es das Gründungsmitglied Claus Roxin, s. Thomas Duve: Ein Gespräch mit Claus Roxin, in: Forum historiae iuris, 15. Mai 2006, Randnummer 7.
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches – Allgemeiner Teil (AE-StGB AT). Mohr Siebeck: Tübingen 1966 (der Entwurf wurde von über 40 Einzelpublikationen begleitet).
- BT-Drucksache V/2285.
- Heike Jung: Auf den Spuren des Strafprozesskonzepts der Alternativ-Entwürfe, in: GA 2016, S. 266 und 268.
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil – Politisches Strafrecht (AE-StGB BT – Politisches Strafrecht). Mohr Siebeck: Tübingen 1968 (der Entwurf wurde von vier Einzelpublikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: „Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil – Sexualdelikte, Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand, Straftaten gegen den religiösen Frieden und die Totenruhe (AE StGB BT – Sexualdelikte)“ Mohr Siebeck: Tübingen 1968 (der Entwurf wurde von vier Einzelpublikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil – Straftaten gegen die Person, Band 1 (AE-StGB BT – Straftaten gegen die Person, Band 1). Mohr Siebeck: Tübingen 1970 (der Entwurf wurde von elf Einzelpublikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil – Straftaten gegen die Person, Band 2 (AE-StGB BT – Straftaten gegen die Person, Band 2). Mohr Siebeck: Tübingen 1971 (der Entwurf wurde von zwei Einzelpublikationen begleitet).
- Vgl. Stefanie Merenyi: Der Stoffbegriff im Recht: eine interdisziplinäre Studie zum Stoffrecht unter Berücksichtigung des auf Stoffe gerichteten Patentwesens. Mohr Siebeck: Tübingen 2019, S. 442 ff.
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes (AE-StVollzG). Tübingen 1973 (der Entwurf wurde von zwölf Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Entwurf eines Gesetzes gegen Ladendiebstahl (AE-GLD). in: Recht und Staat, 1974, Heft 439. (der Entwurf wurde von einer Publikation begleitet).
- Alternativ-Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Betriebsjustiz (AE-BJG). in: Recht und Staat, 1975, Heft 447/448.
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Besonderer Teil – Straftaten gegen die Wirtschaft (AE-StGB BT – Straftaten gegen die Wirtschaft). Mohr Siebeck: Tübingen 1977 (der Entwurf wurde von zwei Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf, Novelle zur StPO: Strafverfahren mit nichtöffentlicher Hauptverhandlung (AE-StPO NÖV). Tübingen 1980 (der Entwurf wurde von fünf Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf Novelle zur StPO: Reform der Hauptverhandlung (AE-StPO Reform HV). Tübingen 1985 (der Entwurf wurde von elf Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Stb). Stuttgart 1986 (der Entwurf wurde von sechs Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativentwurf zur Wiedergutmachung (AE-WGM). München 1992 (der Entwurf wurde von 23 Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmefreiheit (AE-ZVR). München 1996 (der Entwurf wurde von 15 Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf – Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV). München 2001 (der Entwurf wurde von drei Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf – Strafjustiz und Medien (AE-StuM). München 2004 (der Entwurf wurde von vier Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-StB), in: GA 2005, 553 ff. (der Entwurf wurde von fünfzehn Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf – Reform der Tötungsdelikte (AE-Leben), in: GA 2008, 193 ff. (der Entwurf wurde von vierzehn Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf Beweisaufnahme (AE-Beweisaufnahme), in: GA 2014, 1 ff. (der Entwurf wurde von zwei Publikationen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf – Abgekürzte Strafverfahren im Rechtsstaat (AE-ASR), in: GA 2019, 1 ff. (der Entwurf wurde von acht Publikationen und mehreren Rezensionen begleitet).
- Arbeitskreis Alternativ-Entwurf: Alternativ-Entwurf – Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung (AE-ADH), Baden-Baden 2022 (zu diesem Entwurf liegen bereits mehrere Reaktionen vor).