Anthony van Hoboken

Anthony van Hoboken (* 23. März 1887 in Rotterdam; † 1. November 1983 in Zürich) war ein niederländischer Musikwissenschaftler und bedeutender Musiksammler. Seine herausragende Leistung ist die Erarbeitung des ersten umfassenden Verzeichnisses aller Kompositionen Joseph Haydns, des Hoboken-Verzeichnisses.

Aufnahme von Georg Fayer (1927)

Leben und Werk

Anthony van Hoboken entstammte einer traditionsreichen, alteingesessenen und wohlhabenden Rotterdamer Kaufmanns-, Bankiers- und Reederfamilie. Sein ererbter Reichtum machte ihn zeitlebens finanziell unabhängig und ermöglichte ihm, ganz seinen Neigungen zu leben. Nach Abschluss der Schule studierte er von 1906 bis 1909 an der Technischen Hochschule in Delft. Sein eigentliches Interesse galt jedoch der Musik. Neben dem Ingenieurstudium erhielt er Unterricht in Klavierspiel und Komposition bei Anton B. H. Verhey.

1909 wechselte er an Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt am Main, wo er Harmonielehre bei Bernhard Sekles und Komposition bei Iwan Knorr studierte. Ab 1917 lebte er in München, wo er sich in der Nymphenburger Walhallastraße 1 eine Villa erbauen ließ, die er 1919 bezog. Er bewegte sich in Kreisen der Schwabinger Bohème, war mit Marietta di Monaco liiert[1] und scharte Künstler wie die Maler Georg Schrimpf, Heinrich Maria Davringhausen, Rudolf Levy und den Schriftsteller Oskar Maria Graf um sich.

In München lernte er den Komponisten Otto Vrieslander kennen und begann, von diesem beraten, ab 1919 eine bedeutende Sammlung musikalischer Erst- und Frühdrucke und musiktheoretischer Literatur von Bach bis Brahms aufzubauen, basierend auf der Überzeugung, dass Interpretationsfragen nicht nur anhand der Manuskripte, sondern auch der Erstdrucke zu prüfen seien, nach welchen ein Musikstück zu seiner Zeit aufgeführt wurde. Van Hobokens Sammlung war schließlich mit etwa 8000 Titeln die weltweit größte Privatsammlung ihrer Art. Als Bibliothekar der Sammlung beschäftigte van Hoboken von 1926 bis 1935 Otto Erich Deutsch, später Autor des Deutsch-Verzeichnisses der Werke Franz Schuberts. Die Sammlung Hoboken wurde 1974 von der Republik Österreich für die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek angekauft[2] und 2016 von der österreichischen UNESCO-Kommission in die Liste des nationalen Dokumentenerbes Memory of Austria aufgenommen.[3] Einen Schwerpunkt der Sammlung bilden mit ca. 1000 Erst- und Frühausgaben die Werke Joseph Haydns.

Am 7. Dezember 1922 heiratete van Hoboken die Schauspielerin Annemarie Seidel, mit der er sich auf eine Weltreise begab. 1925 ließ er sich in Wien[4][5][6] nieder, wo er Schüler des Musiktheoretikers Heinrich Schenker wurde, den er auf Empfehlung Vrieslanders kennengelernt hatte. In Gesprächen mit Schenker erklärte van Hoboken sich bereit, eine Sammlung fotografischer Reproduktionen von Autographen großer Komponisten zu finanzieren. So kam es im Herbst 1927 zur Gründung des „Archivs für Photogramme musikalischer Meister-Handschriften“ (abgekürzt „Photogrammarchiv“ oder „Meisterarchiv“). Er verwirklichte damit einen Plan, den Schenker schon vor dem Ersten Weltkrieg verfolgt hatte: Das Archiv sollte als Grundlage für die musikwissenschaftliche Forschung dienen mit dem Ziel, die vielfach bearbeiteten Werkausgaben des 19. Jahrhunderts durch originalgetreue Editionen auf der Basis der Handschriften zu ersetzen;[7][8] zur Vervollständigung der Sammlung arbeitete man auch mit anderen Bibliotheken zusammen.[9]

In dem im November 1927 veröffentlichten „Aufruf“ zur Gründung des Archivs heißt es:[10]

„Die Werke der Meister der Tonkunst sind uns heute in der Hauptsache nur bekannt nach den Ausgaben, die von ihnen im Umlauf sind. Diese Ausgaben sind aber meistens von anderen bearbeitet und entsprechen in mehrfacher Hinsicht nicht mehr getreu dem Original. […] Da aber die Handschrift für das richtige Studium der Meisterwerke die beste, ja die einzige Quelle darstellt, ist es notwendig, mittels photographischer Wiedergabe des Originals die möglichst weite Verbreitung desselben zu fördern! […] Zu diesem Zwecke habe ich mich entschlossen, ein Archiv anzulegen, in welchem die photographischen Aufnahmen der wichtigsten Handschriften unserer musikalischen Großmeister aufbewahrt werden sollen, wo sie besichtigt werden können und wo auf Wunsch Abzüge derselben angefertigt werden, um sie Interessenten zur Verfügung zu stellen. […] Es geht hier um nichts weniger als um die Erhaltung unserer Tonkunst, da nur die Kenntnis der Handschrift die Fehler zu berichtigen vermag, die sich in die Ausgaben eingeschlichen haben.“

Van Hoboken finanzierte das Archiv ausschließlich aus eigenen Mitteln.[11][12] Auf rastlosen Reisen durch ganz Europa suchte er Musikhandschriften ausfindig zu machen und von den Besitzern die Erlaubnis zur Reproduktion zu erhalten.[13]

Bereits 1931 umfasste das Archiv über 30.000 Seiten[14], Anfang 1936 hatte sich die Zahl auf über 40.000 erhöht[15][16][17] und Mitte 1936 waren es schon 48.000.[18] Die Qualität der „von seinem eigenen Atelier besorgten Photostataufnahmen“[19] (Fotokopien) war für die damaligen Verhältnisse hervorragend.[20]

Hobokens Berufung auf die „Erhaltung unserer Tonkunst“ fand während des Zweiten Weltkriegs ungeahnte Bestätigung, da zahlreiche Manuskripte, deren Originale im Krieg untergingen, nur durch die Kopie im Archiv erhalten geblieben sind. Organisatorisch war das Archiv der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek angegliedert, der van Hoboken es 1957 schenkte. Der heutige Bestand liegt bei ca. 60.000 Seiten.

Schon 1927 plante van Hoboken, ein chronologisches Verzeichnis der Werke Joseph Haydns zu erstellen.[21] Nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit und mit der ab 1948 von Willy Strecker, dem Leiter des Schott-Verlags, zugesicherten technischen Unterstützung durch den Verlag erschien 1957 bei Schott in Mainz der erste von drei Bänden seines Thematisch-bibliographischen Werkverzeichnisses der Werke Joseph Haydns, das seinen dauernden Ruhm begründete. Dieses Hoboken-Verzeichnis stellte die größtenteils höchst unübersichtliche und unsichere Überlieferung und Zuschreibung der Werke Haydns erstmals auf eine gesicherte musikwissenschaftliche Grundlage. Ähnlich wie mit dem Köchelverzeichnis für Mozart und dem Deutsch-Verzeichnis für Schubert war damit ein maßgebliches Werkverzeichnis geschaffen, nach dem bis heute die Werke Haydns zitiert werden. Da eine genaue zeitliche Zuordnung der Werke in vielen Fällen nicht möglich war,[22] ist das Verzeichnis, anders als ursprünglich geplant, nicht chronologisch, sondern nach Gattungen geordnet. Eine Hoboken-Nummer besteht daher aus einer römischen Zahl für die Werkgruppe (I-XXXII, z. B. I für die Symphonien, III für die Streichquartette, XXII für die Messen), gefolgt von einer arabischen Werknummer. Band 2 des Verzeichnisses erschien 1971, der abschließende dritte Band 1978.

Van Hobokens Ehe mit Annemarie Seidel wurde 1932 kinderlos geschieden. In zweiter Ehe war er seit dem 30. März 1933 mit Eva Hommel (Künstlername: Eva Boy) verheiratet. Ihr Sohn Anthony jr. kam 1937 zur Welt. Nach dem „Anschluss Österreichs“ an das nationalsozialistische Deutschland übersiedelte van Hoboken 1938 in die Schweiz, wo die Familie erst im Hause des Dirigenten Wilhelm Furtwängler in St. Moritz wohnte, dann von 1940 bis 1950 in Lausanne und von 1951 an in Ascona. 1977 übersiedelte er nach Zürich, wo er bis zu seinem Tod wohnte.

Van Hoboken ruht in einem Ehrengrab der Stadt Zürich auf dem Friedhof Witikon (Zürich).

Grab von Eva und Anthony van Hoboken auf dem Friedhof Witikon, Zürich

Ehrungen und Auszeichnungen

Außerdem war Anthony van Hoboken Mitglied der Internationalen Vereinigung der Musikbibliotheken (IVMB), der Koninklijke Vereniging voor Nederlandse Muziekgeschiedenis (KVNM), der Internationalen Bach-Gesellschaft und des Joseph Haydn-Instituts, Köln.

Der Komponist Felix-Eberhard von Cube widmete Anthony van Hoboken sein Praeludium con Fuga in B♭ op.21/1 (1952).[26]

Literarische Rezeption

  • In Oskar Maria Grafs autobiographischem Roman Wir sind Gefangene tritt van Hoboken als „der Holländer“ auf.
  • In Volker Weidermanns 2017 erschienenem Buch Träume. Als die Dichter die Macht übernahmen über die Revolution in Bayern 1918 und die Münchner Räterepublik wird van Hoboken auf S. 21–23 erwähnt.

Werke

Literatur

  • Joseph Schmidt-Görg (Hrsg.): Anthony van Hoboken. Festschrift zum 75. Geburtstag. Schott, Mainz 1962.
  • Rosemary Hilmar: Das Hoboken-Archiv der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Eine Ausstellung zum 90. Geburtstag von Anthony van Hoboken, 23. März – 14. Mai 1977, Wien. Österreichische Nationalbibliothek, Wien 1977 (Ausstellungskatalog).
  • Nortrud Gomringer (Hrsg.): Lion Feuchtwanger, Briefe an Eva van Hoboken. Ed. Splitter, Wien 1996, ISBN 3-901190-26-0.
  • Katalog der Sammlung Anthony van Hoboken in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek – Musikalische Erst- und Frühdrucke. Hans Schneider, Tutzing. 17 Bände 1982–2000 (Inhaltsübersicht).
Lexikaeinträge

Einzelnachweise

  1. Carl Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. S. Fischer, Frankfurt 1971, S. 390.
  2. Der im Jänner 1974 von der Stadt Wien geplante Ankauf wurde wohl wegen des Kaufpreises von öS 46.769.400 (entspricht 2024 etwa 12,4 Millionen €) vom Gemeinderatsausschuß im Oktober abgelehnt; siehe: Gemeinderatsausschuß II (Finanzen und Wirtschaft) Sitzung vom 21. Oktober 1974. In: Amtsblatt der Stadt Wien vom 14. November 1974. S. 3.
  3. UNESCO Weltdokumentenerbe. Memory of Austria. Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung;.
  4. Die eheliche Wohnung befand sich in einem Seitentrakt des Palais Erzherzog Rainer; vgl. Gespräch mit Annemarie Seidel.. In: Neues Wiener Journal, 22. Jänner 1928, S. 4 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwj
  5. Wiener Adreßbuch 1932 Lehmanns Wohnungsanzeiger I. Teil. Einwohner Wiens, S. 601.
    3. Spalte, oben: – Hoboken, Anton, Priv., IV. Wiedner Hauptstraße 63. T. U-40-3-19.
  6. Ab 1934/35 wohnte er in Grinzing: Wiener Adreßbuch 1935 Lehmanns Wohnungsanzeiger I. Teil Namensverzeichnis S. 475. (1. Spalte, oben: – Hoboken, Anton, Priv., XIX. Ecke Grinzingersteig u. Schreiberweg.;); mit der später hinzugekommen genauen Anschrift Schreiberweg 47
  7. Widmung für das Photogrammarchiv. In: Wiener Zeitung, 20. November 1927, S. 9 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/wrz
  8. R. Sm.: Das erste Photogrammarchiv musikalischer Meisterhandschriften. Großzügige Stiftung eines Holländers für die Musiksammlung der Wiener Nationalbibliothek. In: Neues Wiener Journal, 17. November 1927, S. 5–6 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwj
  9. Beispielsweise mit der Wiener Stadtbibliothek; Karl Gladt: Die Wiener Stadtbibliothek 1925 bis 1938. In: Amtblatt der Stadt Wien, 8. April 1953, S. 1–2.
    Hoboken übergab der Musiksammlung dieser Bibliothek 1933 eine Sammlung mit 842 Werken Alt-Wiener Tanzmusik: Amtblatt der Stadt Wien vom 11. April 1953, S. 1–2.
  10. Vollständiger Text des Aufrufs. Schenker Documents Online
  11. Robert Haas: Das Archiv für Photogramme musikalischer Meisterhandschriften (Widmung A. van Hoboken). In: Radio Wien, 30. Jänner 1928, S. 659 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/raw
  12. E. R. F.: Feuilleton. Das Photogrammarchiv der Wiener Nationalbibliothek. In: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, 6. August 1930, S. 2–3 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwg
  13. Ausgewählte Beispiele von Otto Erich Deutsch: Das Photogrammarchiv musikalischer Meisterhandschriften in der Musiksammlung der Wiener Nationalbibliothek. In: Radio Wien, 30. Jänner 1928, S. 18/VIII (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/raw
  14. Fußnote 4. In: Juristische Blätter, Jahrgang 1931, vom 14. November, S. 472 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/jbl
  15. Theater, Kunst, Kultur. Erweiterung des Archivs für Photogramme musikalischer Meisterhandschriften. In: Salzburger Chronik mit der illustrierten Beilage „Österreichische Woche“, 11. Februar 1936, S. 8 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/sch
  16. Erweiterung des Archivs für Photogramme musikalischer Meisterhandschriften. In: Der Wiener Tag, 11. Februar 1936, S. 6 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/tag
  17. Das neue Musikarchiv der Albertina. In: Der Wiener Tag, 15. Februar 1936, S. 5 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/tag
  18. Neuerscheinungen. In: Anzeiger für den Buch-, Kunst- und Musikalienhandel. 77. Jg., Nr. 14, 13. Juni 1936, S. 76 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/obc
  19. Wilhelm Weckbecker: Feuilleton. Zehn Jahre Nationalbibliothek. In: Neue Freie Presse. Abendblatt, 14. Juli 1930, S. 1–3 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nfp
  20. Fußnote 1. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft. Herausgegeben von der Deutschen Musikgesellschaft, Heft 2/1932, 15. Jg., S. 75 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/zmw
  21. Brief van Hobokens an Schenker vom 7. August 1927 bei Schenker Documents Online
  22. Anthony van Hoboken: Vorwort. In: Joseph Haydn. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Band 1. Schott’s Söhne, Mainz 1957, S. XI-XII (archive.org).
  23. Tagesneuigkeiten. In: Neues Wiener Journal, 14. April 1932, S. 10 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/nwj
    Auszeichnung: Der Bundespräsident hat Herrn Anthony van Hoboken als Begründer des Meisterarchivs an der Musiksammlung der Nationalbibliothek das große silberne Ehrenzeichen verliehen.
  24. Theater, Kunst und Musik. In: Salzburger Volksblatt, 21. Dezember 1935, S. 6–7 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/svb
    Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien hielt am Donnerstag ihre Jahresversammlung ab. In derselben wurde der österreichische Gesandte in London Georg Franckenstein zum Ehrenmitglied der Gesellschaft ernannt. Der neugewählte Ausschuß hat folgende Zusammensetzung: Präsident: Alexander Thurn-Taxis; Vizepräsidenten: Dr. Ernst Kraus und Doktor Eugen Beck-Managetta. Direktionsmitglieder: Generalintendant a. D. Franz Schneiderhan, Anthony van Hoboken, Dr. Otto Mayr und Dr. Emanuel Proskovec.
  25. Anfragebeantwortung einer schriftlichen parlamentarische Anfrage betreffend Orden und Ehrenzeichen vom 23. April 2012, S. 132; parlament.gv.at (PDF; 6,8 MB)
  26. tobias-broeker.de (Memento vom 7. Oktober 2019 im Internet Archive)
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