Anselm d’Ysalguier

Anselm d’Ysalguier (* vor ca. 1380 in Toulouse; † nach 1420 ebenda) war ein französischer Ritter, Abenteurer und Afrikareisender, dessen Existenz aber umstritten ist.

Leben

Nach Angaben der Chronik von Toulouse, verfasst von Pierre Bardin (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts), soll der Ritter Anselm (auch: Anselme) d’Ysalguier im Jahre 1402 auf einer nicht näher bezeichneten Route durch die Sahara an einen großen Fluss (vermutlich den Niger) gekommen und acht Jahre am Königshof von Gago (aller Wahrscheinlichkeit nach Gao, die Hauptstadt des Songhai-Reiches im heutigen Mali) gelebt haben. Dort habe er eine schwarze Prinzessin geheiratet und sei mit ihr und einem kleinen einheimischen Gefolge nach Toulouse zurückgekehrt. Wenn dieser Bericht den Tatsachen entsprechen sollte, wäre dies der Beleg für die erste Reise eines Europäers nach Westafrika.

Über das Leben Anselms nach seiner Rückkehr ist nichts bekannt. Er soll einen ausführlichen Bericht über seine Reise nach Afrika und seinen dortigen Aufenthalt und ein Wörterbuch der „afrikanischen Sprache“, d. h. des Songhai, verfasst haben. Die Dokumente, die der Lokalhistoriker Guillaume Lafaille für seine Annales de la ville de Toulouse (1687) benutzt haben will, sind jedoch spurlos verschwunden. Nach Anselms Tod in den 1420er Jahren trat seine Witwe in ein Kloster ein, während seine Kinder in angesehene gascognische Adelsfamilien einheirateten. Sein Enkel Eustache de Faudoas soll den Spitznamen „Le Morou (der Mohr)“ gehabt haben. In den Stammbäumen der betreffenden Familien sind die Kinder d’Ysalguiers jedoch nicht nachweisbar bzw. – sofern die Namen auftauchen – nicht als Nachkommen eines Anselm d’Ysalguier ausgewiesen.

Hintergründe

Außer den wenigen Angaben, die uns über die Chronik des Pierre Bardin und die Stadtgeschichte des Guillaume Lafaille überkommen sind, gibt es keine weiteren Belege für die Reise des Anselm d’Ysalguier. Nicht einmal seine Existenz ist historisch bewiesen, obwohl das Rittergeschlecht der d’Ysalguier eine bedeutende Rolle in der Gascogne und im Languedoc spielte und seine Geschichte einschließlich des Stammbaums bestens erforscht ist. Nach der eher zufälligen Entdeckung des Berichts über die Afrikareise durch den Marinehistoriker Charles de La Roncière (um 1920) wurde lange Zeit angenommen, dass die Angaben von Bardin und Lafaille als zuverlässig zu bewerten seien. Auffällig ist die Tatsache, dass Anselm seine Heimat im Jahre 1402 verließ, genau zu dem Zeitpunkt, als eine Reihe von Rittern aus der Gascogne sich dem Abenteurer Jean de Béthencourt (1362–1425) anschlossen, der die Kanarischen Inseln erobern wollte. Charles de La Roncière, der den Bericht über d’Ysalguier entdeckte, versuchte ihn glaubwürdig erscheinen zu lassen und konstruierte ohne jeden Quellenbeleg folgendes Szenario: Der Ritter habe sich unter den Eroberern befunden und sei bei einem Überfall auf die mauretanische Küste in Gefangenschaft geraten. Von den Mauren sei er als Sklave bis an den Niger gelangt und als Kuriosität an den Hof des Songhai-Königs verkauft worden.[1] Eine andere Spekulation besagte, er sei zuerst auf Pilgerfahrt in Jerusalem gewesen und dann über Ägypten und Nubien ins Songhai-Reich gekommen. Hierfür gibt es aber überhaupt keine Anhaltspunkte.[2]

Seit längerer Zeit neigt die Geschichtswissenschaft zu dem Urteil, dass beide Chroniken über weite Strecken erfundenes Material enthalten und Anselm d’Ysalguier als eine fiktive Persönlichkeit anzusehen ist. Bardins Werk ist ohnehin nicht im Original erhalten, sondern nur in Abschriften aus dem 17. Jahrhundert, was den Verdacht aufkommen lässt, dass zu dieser Zeit – im Zeitalter des beginnenden Kolonialkonflikts zwischen Frankreich und Großbritannien – französische Rechte in Afrika aus der Geschichte hergeleitet werden sollten. Es ist auch denkbar, dass die Geschichte um Anselm d’Ysalguier im 17. Jahrhundert wieder ausgegraben oder (mit anderen, gleichartigen „Überlieferungen“) sogar erst erfunden wurde, um die Bedeutung der Gascogne für die Entwicklung französische Monarchie auf dem Höhepunkt des Hundertjährigen Krieges herauszustreichen. Angesichts der Bemühungen des absolutistischen Staates, die Sonderrechte der alten Provinzen radikal zu beschneiden, griffen die Juristen und Regionalhistoriker der betroffenen Regionen häufig zu einer Rechtfertigung ihrer Forderungen aus der Vergangenheit, wobei sie auch vor Geschichtsklitterung oder Fälschungen von Dokumenten etc. nicht zurückscheuten.

Die Tatsache, dass die von vornherein höchst zweifelhafte Geschichte von der französischen Geschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts ernst genommen wurde, ist nicht zuletzt in der Tatsache begründet, dass Kolonialhistoriker wie La Roncière die Notwendigkeit sahen, das defizitäre Kolonialreich in Westafrika aus der Vergangenheit heraus zu rechtfertigen, sozusagen als Vermächtnis derjenigen Franzosen, die als Erste bis an den Niger vorgestoßen waren und damit für ihr Vaterland ein moralisches Anrecht auf diesen Teil Afrikas erworben hatten. Während die Historiker die Existenz des Ritters d’Ysalguier massiv in Zweifel ziehen oder sogar bestreiten, wird er in populärwissenschaftlichen Büchern als reale Figur der afrikanischen Geschichte vorgestellt.[3]

Auch die afrikanischen Quellen wissen nichts von der Anwesenheit eines weißen Mannes am Hof des Königs der Songhai, obwohl die Chroniken von Timbuktu sehr ausführlich über die Zeit berichten und selbst banale Ereignisse überliefern.[4] Erstaunlich ist lediglich ein Detail: Die Prinzessin, die d’Ysalguier nach Toulouse heimgeführt haben soll, trug einen Namen, der in ähnlich klingender Form in der Dynastie der Songhai-Könige – auch im späten 15. Jahrhundert – mehrfach belegt ist. Allerdings reicht dieses isolierte und vielleicht auch zufällige Detail nicht aus, die historische Existenz des Ritters d’Ysalguier zu beweisen.[5]

Der schwarze Arzt aus Gao

Im Gefolge d’Ysalguiers befand sich der Überlieferung nach ein Eunuch namens Aben Ali, der ein Meister afrikanischer Heilkünste gewesen sein soll. Er ließ sich zum Ärger der christlichen Ärzte in Toulouse nieder und wurde häufig konsultiert. Im März 1420 kam der zu diesem Zeitpunkt noch nicht gekrönte König Charles VII. (1403–1461) im März 1420 nach Toulouse, wo er lebensgefährlich erkrankte. In dieser Situation soll die Kunst aller französischen Ärzte versagt haben, so dass man als letzte Rettung den schwarzen Eunuchen holte, der den Thronfolger heilte. Später soll Aben Ali von seinen neidischen Kollegen vergiftet worden sein. Wie die Person des Ritters ist auch die Existenz des schwarzen Arztes historisch nicht nachweisbar, wohingegen die Krankheit des Thronfolgers in der zeitgenössischen Literatur als Faktum belegt ist.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich afrikanische und afro-amerikanische Autoren der Figur des schwarzen Arztes angenommen und diesen zu einem Mythos aufgebaut. Er wird den christlichen Ärzten, die angeblich nur über konfuses und veraltetes Buchwissen verfügten, als eine Art „weiser Schamane“ aus einer Welt entgegengestellt, in der noch Naturverbundenheit und der Glaube an die Heilkraft der Natur gelten. Vor allem Autoren aus dem Umfeld afro-amerikanischer Muslime sehen in Aben Ali den Vertreter der islamischen Heilkunst und betrachten ihn als einen frühen Prototyp der schwarzafrikanischen Gelehrtenschicht, die im ständigen geistigen Austausch mit den Zentren der islamischen Bildung in Ägypten oder Spanien standen. Hier kommt ihnen die angebliche Ermordung des afrikanischen Heilers durch weiße Ärzte sehr entgegen, weil sie es erlaubt, eine Tradition der Diskriminierung von „Black physicians“ zu konstruieren, die in das 20. Jahrhundert reicht. Dabei übersehen sie, dass Toulouse, bedingt durch seine relative Nähe zur iberischen Halbinsel, ohnehin eine Durchgangsstation für medizinisches Wissen aus dem muslimischen Teil Spaniens war und die Heilmethoden der Ärzte in Toledo oder Granada kein fremdes Wissen mehr darstellten. In völliger Verzerrung der Geschichte wird sogar die Behauptung aufgestellt, die französischen Könige des späten Mittelalters hätten schwarze Leibärzte aus Timbuktu oder Gao an ihren Hof berufen.[6]

Literatur

  • François Galabert, „Le Toulousain Anselme Ysalguier est-il allé au Niger au XVe siècle?“, Mémoire de l’Académie des Sciences, Inscriptions et Belles Lettres de Toulouse sér. XII, Bd. 11 (1933), 1–45.
  • Charles de La Roncière, La découverte de l’Afrique au moyen âge. Cartographes et explorateurs. Kairo 1924–1927, 3 Bde. (hier spez. Bd. 3)
  • Pekka Masonen, The Negroland Revisited: Discovery and Invention of the Sudanese Middle Ages. Helsinki 2000, (spez. S. 112 ff.)
  • Philippe Wolff, „Une famille du XIIIe au XVIe siècle: Les Ysalguier de Toulouse“, in, Ders., Regard sur le Midi Médiéval. Toulouse 1978, S. 233–259.

Romane

Der malische Historiker Ibrahima Baba Kaké verfasste 1975 in der für afrikanische Schüler gedachten Reihe „Grandes figures africaines“ einen 95-seitigen Roman über die angebliche Gemahlin Salou Casais, der aber weitgehend ein Phantasieprodukt ist:

  • Ibrahima Baba Kaké, Salou Casais. Une idylle franco-songhay au XVe siècle. Paris – Dakar – Abidjan 1975 ISBN 2-85-809-007-6

Neuerdings liegt ein historischer Abenteuerroman vor, in dessen Mittelpunkt die Geschichten um Anselme d’Ysalguier stehen. Der Autor Philippe Frey entwirft darin ein phantasievolles Bild des frühen 15. Jahrhunderts, das aber eher europäische Klischeevorstellungen bedient und der historischen Realität, d. h. dem Leben und Denken der Epoche, wenig entspricht.

Anmerkungen

  1. Roncière, Découverte, Bd. 3, S. 2. Pekka Masonen hält dieses Szenario zumindest für vorstellbar. Siehe Masonen, Negroland Revisited, S. 114.
  2. Masonen, Negroland Revisited, S. 113.
  3. Siehe etwa Jean-Marc Durou, L’exploration du Sahara. Vorw. v. Théodore Monod. Paris 1993, S. 50 f., u. Philippe Decraene u. François Zuccarelli, Grands Sahariens à la découverte du „désert des déserts“. Paris 1994, S. 269. Hier wird behauptet, d’Ysalguier habe die Tochter des Mali-Herrschers geheiratet, obwohl er, wenn er tatsächlich den Niger im heutigen Mali erreicht haben sollte, ins Reich der Songhai gelangt wäre. Beide Bücher stellen das von La Roncière entwickelte hypothetische Szenario als erwiesene historische Tatsache vor.
  4. Eine der Chroniken berichtet von einem schwarzen Schmied, der sich aus der Sklaverei an der Westküste Afrikas befreit und quer durch die Sahara an den Niger zurückgekehrt war. Siehe Masonen, Negroland Revisited, S. 115 f.
  5. Eine der Chroniken berichtet von einem schwarzen Schmied, der sich aus der Sklaverei an der Westküste Afrikas befreit und quer durch die Sahara an den Niger zurückgekehrt war. Siehe Masonen, Negroland Revisited, S. 115 f. Es ist allerdings zu beachten, dass die Dynastie der Songhai-Herrscher, die um 1400 in Gao residierten, im Lauf des Jahrhunderts vertrieben und durch die historisch bedeutsame Dynastie der Askia ersetzt wurden, in deren Familie der besagte Name nachgewiesenermaßen üblich war. Inwieweit der Name der Prinzessin daher als aussagekräftiger Beleg für die historische Realität herangezogen werden darf, muss also weiter offenbleiben.
  6. Zitat bei 3SAT: „Mediziner aus Timbuktu versorgten die Könige Frankreichs …“
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