All of Us Strangers
All of Us Strangers (dt.: „All wir Fremden“) ist ein britisch-amerikanischer Spielfilm von Andrew Haigh aus dem Jahr 2023. Das phantastische Melodram[3][4], das Motive des Geisterfilms nutzt, basiert lose auf einem Roman des Japaners Taichi Yamada. Es erzählt von zwei Männern, die sich in einem anonymen Hochhaus in London kennen und lieben lernen. Die aufkeimende Beziehung wird durch Ängste und ein Kindheitstrauma des Älteren erschwert, wodurch er seinen Partner zu vernachlässigen beginnt. Indem er Begegnungen mit seinen verstorbenen Eltern imaginiert, gelingt es ihm allmählich, den Verlust zu verarbeiten. Die schwule Liebesgeschichte spiegelt in den Gesprächen der Figuren untereinander die gesellschaftlichen Veränderungen in der Akzeptanz von Homosexualität wieder. Die Hauptrollen übernahmen Andrew Scott, Paul Mescal, Jamie Bell und Claire Foy.
Die Uraufführung fand Ende August 2023 im Rahmen des amerikanischen Filmfestivals von Telluride statt. Die internationale Filmkritik rezensierte das Werk als einen der besten Filme des Regisseurs und pries die Leistung des Schauspielensembles. Der Großteil der Kritiker sprach von einem der bewegendsten und intensivsten Liebesfilme des zeitgenössischen Kinos. All of Us Strangers wurde für zahlreiche Film- und Festivalpreise nominiert und gewann unter anderem den British Independent Film Award (2023) und London Critics’ Circle Film Award (2024) jeweils als bester britischer Film des Jahres. Ein regulärer Kinostart in Deutschland erfolgte Anfang Februar 2024.
Handlung
London in der Gegenwart: Adam ist alleinstehend und verdient sein Geld mit Drehbüchern für Film- und Fernsehproduktionen. Der schwule Mann Mitte 40[5] lebt in einem modernen, aber fast leerstehenden Apartment-Hochhaus mit Blick auf die Skyline der britischen Hauptstadt. Als eines Nachts der Feueralarm ihn nach draußen auf die Straße zwingt, erblickt er einen Nachbarn, der eine Wohnung viele Stockwerke unter ihm bewohnt. Kurze Zeit später bittet der angetrunkene Harry mit einer Flasche japanischen Whiskeys in der Hand um Einlass bei Adam. Obwohl der attraktive Mann Ende 20[6] mit ihm flirtet, widersteht er dessen Avancen und schickt ihn fort.
Adam fasst den Entschluss, ein Drehbuch über seine Kindheit zu verfassen. Es soll im Jahr 1987 spielen, als er im Alter von elf Jahren seine Eltern durch einen Autounfall verlor. Daraufhin wuchs er bei seiner Großmutter in Irland auf. Adam hört alte Langspielplatten, stöbert in Fotoalben und findet ein Bild seines Elternhauses. Daraufhin fährt er in den Londoner Vorort Sanderstead,[7] wo die Doppelhaushälfte immer noch steht. Scheinbar ziellos irrt er durch den Ort, bis er in einem Park einem jüngeren Mann mit Schnurrbart begegnet, dem er zu einem Spirituosengeschäft folgt. Der Mann stellt sich als Adams Vater heraus, der genauso aussieht wie kurz vor seinem Unfalltod. Er lädt ihn spontan zu sich und Adams Mutter in die Doppelhaushälfte ein. Das Wiedersehen mit den Eltern ist anfänglich scheu und dann sehr herzlich. Sie sind erfreut, Adam als Erwachsenen kennenzulernen und können ihr Glück kaum fassen. Auch sein Kinderzimmer mit Postern von den Pet Shop Boys und Frankie Goes to Hollywood ist unverändert.
Tatsächlich findet das Zusammentreffen in der Fantasie Adams als Autor statt. Er hatte sich seit dem Tod seiner Eltern das verlorene Familienleben ausgemalt. Später war die Einsamkeit einem Gefühl der unbändigen Angst (deutsche Synchronfassung: „Todesangst“) gewichen, das sich im Alter bei ihm verfestigt hatte. Adam beflügelt die Vorstellung seiner Eltern so sehr, dass er sie fortan wiederholt aufsucht und später auch mit ihnen Weihnachten feiert. Er berichtet Mutter und Vater davon, schwul zu sein und wie er unter dem Mobbing seiner Mitschüler gelitten hat. Während die Mutter überrascht ist, kann er ihre Vorurteile um Diskriminierung und AIDS zerstreuen. Der Vater, der die Homosexualität seines Sohnes bereits erahnt hatte, entschuldigt sich ebenso wie die Mutter dafür, nicht für ihn dagewesen zu sein.
Gleichzeitig kommt Adam mit Harry zusammen, obwohl beide über ein unterschiedliches Selbstverständnis verfügen. Dies zeigt sich unter anderem in der Interpretation der Begriffe „gay“ und „queer“. Beide Männer sind einsam und öffnen sich dem jeweils anderen. So hat Harry mit einer Außenseiterstellung in seiner sich tolerant gebenden Familie zu kämpfen. Er hört Adam zu, tröstet und kümmert sich um ihn, nachdem dieser in einem Club unter Einfluss von Ketamin zusammengebrochen ist. Als Adam von Harry zu seinen Eltern begleitet wird, finden sie das Haus dunkel und verlassen vor, woraufhin Adam, einem Nervenzusammenbruch nahe, eine Scheibe einschlägt. Dennoch scheinen sich Harry und Adams Eltern für einen kurzen Augenblick schemenhaft gegenseitig wahrzunehmen.
Kurze Zeit später besucht Adam wieder seine Eltern. Zum Wohle ihres Sohnes haben sie beschlossen, er solle auf zukünftige Besuche zu verzichten. Zum Abschied und besuchen alle drei ein American Diner in einem Einkaufszentrum. Der Vater ist stolz auf ihn, während die Mutter an ihren Sohn appelliert, Harry eine Chance zu geben, ehe beide verblassen. Tatsächlich ist es nur Adam, der von der Kellnerin das geliebte „Family Special“ serviert bekommt. Als Adam anschließend das erste Mal Harrys Wohnung aufsucht, findet er dessen bereits stark verwesenden Leichnam zwischen Drogen und mit der in der ersten Begegnung gezeigten leeren Whiskeyflasche im Schlafzimmer. Im Nebenzimmer imaginiert er Harry, der gesteht, er habe an dem Abend ihrer ersten Begegnung wirklich jemanden gebraucht und fragt, ob sein Leichnam wirklich nebenan liege. Adam bejaht und bittet Harry, wieder mit in seine Wohnung zu kommen und sich den eigenen Leichnam nicht anzusehen. Sie legen sich gemeinsam aufs Bett und Adam beruhigt Harry, ähnlich wie es vorher andersherum geschehen war. Es ertönt der Popsong „The Power of Love“, als Harry, der die Stille im Haus nie ertragen konnte, Adam darum bittet, Musik aufzulegen. Harry hat die Hoffnung, dass Adam glücklich wird. Zum Filmende wird das sich umarmende Paar, begleitet vom Popsong „The Power of Love“ zu einem aufblitzenden Stern am Nachthimmel.[8]
Entstehungsgeschichte
Literaturvorlage und Drehbuch
All of Us Strangers (ursprünglicher Arbeitstitel: Strangers) ist der fünfte Spielfilm des britischen Regisseurs Andrew Haigh, der auch das Drehbuch verfasste. Das Skript basiert lose auf dem 1987 erschienenen Roman Ijintachi to no natsu (異人たちとの夏, wörtlich „Sommer mit Fremden“) des japanischen Schriftstellers Taichi Yamada (dt. Titel: Sommer mit Fremden, 2007). Das Werk war bereits kurz nach Erscheinen in Japan von Nobuhiko Obayashi als Ijin-tachi to no natsu (1988; internationaler Titel: The Discarnates, wörtlich „Die Entkörperten“) erfolgreich verfilmt worden.[9]
In der Romanvorlage und im Film ist die Figur des Harry einer Frau zugeschrieben.[10] Haigh – selbst homosexuell – änderte dies entsprechend. Bereits zuvor hatte er sich mit den Filmen Greek Pete (2009), Weekend (2011) und der Serie Looking (2014–2016) schwulen Lebensgeschichten gewidmet. In der Literaturvorlage war das Geisterelement bereits zugrunde gelegt. Haigh erweiterte die Handlung seines Drehbuchs um die homosexuelle Beziehung und die dazugehörige Symbolik.[11] Damit legte er quasi sein eigenes Leben über den Roman. Zwar starben Haighs Eltern nicht früh, ließen sich aber voneinander scheiden. Auch drehte er den Film zum Teil in seinem eigenen Elternhaus in Croydon. Die Dreharbeiten seien für den Filmemacher so intensiv gewesen, dass ein Ekzem aus Kindertagen in dieser Zeit zurückkehrte.[12] Für die Hauptrollen verpflichtete er die namhaften Darsteller Andrew Scott als Adam, Paul Mescal als Harry sowie Jamie Bell und Claire Foy als Adams Eltern.[13] In einigen Filmszenen erscheint der Kinderdarsteller Carter John Grout als Adam. Mit all diesen Schauspielern arbeitete Haigh das erste Mal zusammen.
- Andrew Scott (2019) übernahm die Hauptrolle des Adam.
- Paul Mescal (2023) spielte dessen Liebhaber Harry.
- Jamie Bell (2019) ist als Adams Vater zu sehen.
- Claire Foy (2018) schlüpfte in die Rolle Mutter.
Dreharbeiten
Anfang Juli 2022 wurde der Beginn[13] und Mitte August 2022 der Abschluss der Dreharbeiten vermeldet.[14] Als Kameramann wurde der Südafrikaner Jamie D. Ramsay verpflichtet, mit dem Haigh das erste Mal zusammenarbeitete. Gedreht wurde auf 35-mm-Film. Haigh hatte ihm als Vorgabe Ingmar Bergmans Schreie und Flüstern (1972) genannt. Ramsay orientierte sich trotz der unterschiedlichen Genres zusätzlich an Hayao Miyazakis Zeichentrickfilm Chihiros Reise ins Zauberland (2001).[15] „Ich wusste, dass ich den Film in mir spüren konnte. Die Haptik, wie meine Elektrizität durch die Kamera fließt, war wichtiger als alles andere“, so Ramsay über die Arbeit an All of Us Strangers. „Es war mir wichtig, dass die Kameraarbeit und die Kameraführung intim und persönlich sind, und ich wollte vom Objektiven zum Subjektiven übergehen.“[15]
Für den Schnitt vertraute Haigh seinem langjährigen Weggefährten Jonathan Alberts, während die Filmmusik neben einem 1980er-Jahre-Soundtrack von der Französin Emilie Levienaise-Farrouch komponiert wurde.
Produziert wurde der Film von Graham Broadbent und Peter Czernin von der britischen Gesellschaft Blueprint Pictures gemeinsam mit Sarah Harvey im Auftrag vom US-Unternehmen Searchlight Pictures und dem britischen Film4.[13] Anfang August 2023, wenige Wochen vor dem Kinostart, wurde bekannt, dass sich der Titel von Strangers in All of Us Strangers geändert hatte.[16]
Synchronisation
Die deutschsprachige Synchronisation entstand nach einem Dialogbuch und unter der Dialogregie von Masen Abou-Dakn für die FFS Film- & Fernseh-Synchron. Insgesamt gab es 6 Sprechrollen.[17]
Rollen (Auswahl) | Darsteller | Synchronsprecher[17] |
---|---|---|
Adam | Andrew Scott | Marius Clarén |
Harry | Paul Mescal | Amadeus Strobl |
Adams Vater | Jamie Bell | Nicolás Artajo |
Adams Mutter | Claire Foy | Sarah Riedel |
Rezeption
Veröffentlichung und Einspielergebnis
Die Premiere von All of Us Strangers erfolgte am 31. August 2023 auf dem 50. Filmfestival von Telluride (Colorado).[18] Daraufhin wurde das Werk in die Programme zahlreicher weiterer Festivals aufgenommen, darunter von New York, Athen, Chicago, Stockholm, Taipeh, Valladolid und dem amerikanischen AFI Fest. Im Vereinigten Königreich wurde der Film erstmals am 8. Oktober 2023 im Rahmen des Filmfestivals von London gezeigt.[19]
Haighs Regiearbeit wurde am 22. Dezember 2023 von Searchlight Pictures regulär in den US-Kinos veröffentlicht.[16] Ein regulärer Kinostart im Vereinigten Königreich fand am 26. Januar 2024, in Deutschland am 8. Februar 2024 statt.[19] Zuvor war der Film Anfang Dezember 2023 in Berlin im Rahmen des Festivals Around the World in 14 Films gezeigt worden.[20]
All of Us Strangers erreichte bis Anfang Februar 2024 weltweit einen Box-Office-Gesamtumsatz von 8 Millionen US-Dollar. Davon entfielen 3,5 Millionen US-Dollar auf die Vereinigten Staaten und Kanada sowie 4,65 Millionen US-Dollar auf den Rest der Welt.[21]
Kritiken
Auf der Website Metacritic erhielt All of Us Strangers einen Metascore von 90 von 100 möglichen Punkten, basierend auf mehr als 50 ausgewerteten englischsprachigen Kritiken. Dies entspricht allgemeine Anerkennung („Universal Acclaim“) bei den professionellen Rezensenten und für Haighs Regiearbeit wurde eine eindeutige Filmempfehlung („must-see“) ausgesprochen.[22] In der Jahresbestenliste der Website landete All of Us Strangers auf Platz zehn und damit noch vor den später Oscar-nominierten Werken Oppenheimer, Killers of the Flower Moon, Poor Things oder Anatomie eines Falls.[23] Auf Rotten Tomatoes erhielt der Film unter professionellen Kritikern eine Zustimmungsrate von 96 Prozent bei über 200 ausgewerteten Rezensionen, woraufhin das Prädikat „Fresh“ für besonders viele positive Kritiken vergeben wurde. Dies führte zu einer Durchschnittswertung von 8,8 von 10 möglichen Punkten. Das Fazit der Seite lautet, dass All of Us Strangers „tiefe Trauer und Liebe aus einer fantastischen Perspektive“ untersuche, „die immer auf menschlichen Emotionen“ basiere.[24] In der von Rotten Tomatoes veröffentlichten Liste der 30 besten Filme des Kinojahres 2023 belegte Haighs Regiearbeit den 26. Platz.[25] Damit handelt es sich um das mit am besten rezensierte Werk des britischen Filmemachers.[26][27]
Auch der Großteil der deutschsprachigen Kritiker pries Haighs Film nach dem offiziellen Kinostart, lobte die Leistungen seines Schauspielensembles und hob den 1980er-Popsoundtrack hervor. Zum Teil zählten Rezensenten das Werk zu den bewegendsten und intensivsten Liebesfilm des zeitgenössischen Kinos:
Bert Rebhandl (Frankfurter Allgemeine Zeitung) pries den Film als „bewegendes menschliches Rätsel“. Regisseur Andrew Haigh erschaffe in All of Us Strangers „eine innere Allgegenwart, die stark im Zeichen von Trauerarbeit“ stehe, „Trauer über eine Sozialisation, die frühzeitig zum Stillstand kam“. Er lobte die Leistung von Hauptdarsteller Andrew Scott als „großartig“ sowie die „warmen, weichen“ Kamerabilder von Jamie D. Ramsay. Die Einsamkeit der Hauptfigur schöpfe Haigh „bis in die tiefsten Dimensionen aus“. Selten erlebe man einen Kinofilm, in dem sich „das Pathos der Popkultur […] auf eine Intimität hin“ öffne. All of Us Strangers sei „vielleicht einer der bewegendsten Filme der jüngeren Zeit“, so Rebhandl.[28]
Tobias Kniebe (Süddeutsche Zeitung) rezensierte All of Us Strangers als „meisterhafte Studie über verkapselte Gefühle und Traumata, über alte Wunden, die aufbrechen, über Gespräche und Umarmungen, die vielleicht heilen können“. Haigh entfessle „das eigene Gefühl einer verlorenen Jugend […] mit voller emotionaler Wucht“. Die Darstellerleistungen von Andrew Scott, Claire Foy, Jamie Bell und Paul Mescal seien „allesamt atemberaubend“. Kniebe widersprach, dass es sich bei dem Film um „ein schmalztriefendes, die Geschichte ins Positive umschreibendes Tränenfest“ handle. All of Us Strangers sei „innerlich viel klüger und folgerichtiger gebaut, als man lange Zeit ahnen“ könne. Im Finale begreife „man das in seiner ganzen, unvergesslichen, seelenzerschmetternden Wucht“.[12]
Daniel Kothenschulte (Frankfurter Rundschau) pries Haigh als Meister des Kammerspiels und sein Werk als betörenden „Film über Trauer und Verlust“. Er hob die Schwierigkeit hervor, All of Us Strangers einem Genre zuzuordnen („Drama, Romanze, Science Fiction oder Fantasy“), stufte es aber als „phantastisches Melodram“ ein. Ähnlich wie zuvor Rebhandl, bemerkte er, dass der Film auf „[äußeres] Pathos“ verzichte, „was eine absolute Seltenheit im Genre“ darstelle. Kothenschulte rezensierte das Werk als „vielleicht […] einfach einer der schönsten und traurigsten Filme über Liebe und Verlust“. Haigh sei „ein Gedicht von einem Film“ gelungen, „jenseitig auf seine eigene Art“ und sprenge „jede Kategorie“. Er lobte die Leistungen von Claire Foy und Jamie Bell und bemerkte einen „wunderbaren Minimalismus“. Gefühle würden jede Szene des Films bestimmen.[3]
Jan Künemund (Der Tagesspiegel) sah wie Rebhandl und Kothenschulte mit All of Us Strangers „eine der intensivsten Liebesgeschichten im aktuellen Kino“. Er rezensierte das Werk als „herzzerreißend aufwühlender wie gefühlspolitisch klarer Film“ und lobte ebenso die Darstellerleistungen. Der Film erzähle „schwebend von verbindender Fremdheit“ und sei „sehr konkret im Schildern spezifischer Erfahrungen, aber auch ganz allgemeingültig in seiner emotionalen Verletzlichkeit“. Alle Szenen würden „wie Kristallbilder“ funktionieren, „in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander stürzen“. „Der dystopische Vibe, den London mit Blick vom 27. Stock eines unbewohnten Hochhauses“ bekomme, „verhindere, dass der Film wie eine Geistergeschichte“ erscheine.[29]
Daniel Haas (Neue Zürcher Zeitung) betonte den psychologischen Zugang zum Film: „Die Begegnungen von heute und die Verbindungen von gestern: Beide stellen soziale, mentale und psychische Herausforderungen dar. Damit die Gegenwart gelingen kann, muss die Vergangenheit wenn nicht aufgeräumt, so doch in ihren prägenden Wirkungen erkannt und akzeptiert werden. Dieses Projekt mutet «All of us strangers» seinen Helden und uns, dem Publikum, zu. Und diese Zumutung ist ein Kinoglück.“[30]
Arabella Wintermayr (die tageszeitung) rezensierte den Film kritischer und fühlte sich an eine Notiz von Hermann Hesse erinnert. Auch sie sah ein „sentimentales Melodram“, „in dem nicht nur große Gefühle, sondern auch die Toten heraufbeschworen werden“. Die Zuschauer könnten sich von All of Us Strangers „berührt fühlen oder aber sich an seiner Rührseligkeit stören“. Sie kritisierte vor allem hinsichtlich des Erzählstrangs zwischen Adam und seinen Eltern, dass der Film zu sehr danach strebe, „jeden Dissens in schnödes Wohlgefallen aufzulösen, um daraus ein packendes Gedankenspiel zu entwickeln“. In einigen dieser Szenen wirke der Film auf sein Publikum wie eine „kollektive Kinotherapie, ein schales filmisches Alles wird gut“. Die Dialoge, „die unter dem strengen Vorzeichen der Versöhnung stehen, und Szenen, die letztlich immer in der Affirmation münden“, würden zusehends „repetitiv wirken“. Bestechender empfand Wintermayr den Erzählstrang zwischen Adam und Harry, der eine besondere Dynamik ausstrahle. „Wohltuend feinsinnig“ ergründe Haigh „die Geschichte schwuler Emanzipation“. Mit „ungekannter Emotionalität“ habe der Regisseur die Themen aus seinen früheren Werken Lean on Pete („das Empfinden von Isoliertheit“), Weekend und Looking („die Furcht davor, sich bei allem entgegengerichteten Verlangen wahrlich zu öffnen“) oder 45 Years (die Suche nach Geborgenheit in der Vergangenheit „und darüber die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren“) zusammengeführt. Wintermayr registrierte, dass der Regisseur diesmal „die sonstige Nüchternheit seines Inszenierungsstils“ aufgebe. Wie Rebhandl wies sie auf die „ungewöhnlich“ warme Farbpalette von Kameramann Ramsay hin. Auch sie lobte die Leistung des Schauspielensembles.[4]
Valerie Dirk von der österreichischen Tageszeitung Der Standard sah wie Wintermayr, dass sich Haigh thematisch an seinen früheren Filmen 45 Years und Weekend bedient habe, nämlich an der „Sehnsucht nach Vergangenem“ sowie der aufkeimenden „Intimität zu einem ungleichen Partner“. Sie lobte Haigh als „Meister des zeitgeistigen Melodrams“ und einfühlsamer Charakterstudien. Der Film werde „von einem grandiosen Ensemble“ getragen und „von einem verträumten 1980er-Popsoundtrack“ gekrönt.[31]
Auszeichnungen
In der Filmpreissaison 2023/24 wurde All of Us Strangers für mehr als 100 britische und internationale Film- und Festivalpreise nominiert, von denen das Werk mehr als ein Dutzend gewinnen konnte. Häufig berücksichtigt wurden die Regie und das Drehbuch von Andrew Haigh sowie die Leistungen der Darsteller Andrew Scott, Paul Mescal und Claire Foy. Zu den erhaltenen Auszeichnungen gehören unter anderem sieben British Independent Film Awards (2023) und drei London Critics’ Circle Film Awards (2024), darunter die Auszeichnungen als bester britischer Film des Jahres. Das Drehbuch erhielt unter anderem den Los Angeles Film Critics Association Award (2023), während Hauptdarsteller Scott den amerikanischen National Society of Film Critics Award (2024) und den London Critics’ Circle Film Award gewann. Nebendarsteller Paul Mescal wurde ebenfalls mit dem British Independent Film Award und dem Preis der Londoner Filmkritikervereinigung gewürdigt. Bei der Verleihung der British Academy Film Awards 2024 folgten sechs Nominierungen, darunter für den besten britischen Film, die beste Regie, Drehbuch und die Darsteller Scott und Mescal.[32]
Filmfestival / Filmpreis (Auswahl)[32] | Kategorie | Resultat | Preisträger/ Nominierte |
---|---|---|---|
AACTA International Awards 2024 | Bester Hauptdarsteller | Nominiert | Andrew Scott |
Alliance of Women Film Journalists Awards 2024 | Bester Hauptdarsteller | Nominiert | Andrew Scott |
British Academy Film Awards 2024 | Bester britischer Film | Nominiert | Andrew Haigh, Graham Broadbent, Peter Czernin, Sarah Harvey |
Beste Regie | Nominiert | Andrew Haigh | |
Bestes adaptiertes Drehbuch | Nominiert | Andrew Haigh | |
Beste Nebendarstellerin | Nominiert | Claire Foy | |
Bester Nebendarsteller | Nominiert | Paul Mescal | |
Bestes Casting | Nominiert | Kathleen Crawford | |
British Independent Film Awards 2023 | Bester britischer Independentfilm | Gewonnen | Andrew Haigh, Graham Broadbent, Peter Czernin, Sarah Harvey |
Beste Regie | Gewonnen | Andrew Haigh | |
Bestes Drehbuch | Gewonnen | Andrew Haigh | |
Beste Hauptrolle | Nominiert | Andrew Scott | |
Beste Nebenrolle | Nominiert | Jamie Bell | |
Beste Nebenrolle | Gewonnen | Paul Mescal | |
Beste Nebenrolle | Nominiert | Claire Foy | |
Beste Kamera | Gewonnen | Jamie D. Ramsay | |
Bester Schnitt | Gewonnen | Jonathan Alberts | |
Bestes Szenenbild | Nominiert | Sarah Finlay | |
Bester Ton | Nominiert | Stevie Haywood, Joakim Sundström, Per Bostrom | |
Bestes Make-up und Frisuren | Nominiert | Zoe Clare Brown | |
Bestes Casting | Nominiert | Kathleen Crawford | |
Beste Musik-Supervision | Gewonnen | Connie Farr | |
Camerimage 2023 | Goldener Frosch – Beste Kamera | Nominiert | Jamie D. Ramsay, Andrew Haigh |
Filmfestival von Chicago 2023 | Gold Q-Hugo – Bester Spielfilm | Nominiert | Andrew Haigh |
Chicago Film Critics Association Awards 2023 | Bester Hauptdarsteller | Nominiert | Andrew Scott |
Chlotrudis Awards 2024 | Beste Nebenrolle | Nominiert | Jamie Bell |
Bestes Schauspielensemble | Nominiert | k. A. | |
Critics’ Choice Movie Awards 2024 | Bestes adaptiertes Drehbuch | Nominiert | Andrew Haigh |
Critics’ Choice Super Awards 2024[33] | Bester Darsteller in einem Horrorfilm | Nominiert | Andrew Scott |
Golden Globe Awards 2024 | Bester Hauptdarsteller – Drama | Nominiert | Andrew Scott |
Gotham Awards 2023 | Bester internationaler Film | Nominiert | Andrew Haigh, Graham Broadbent, Peter Czernin, Sarah Harvey |
Bestes Drehbuch | Nominiert | Andrew Haigh | |
Beste Hauptrolle | Nominiert | Andrew Scott | |
Beste Nebenrolle | Nominiert | Claire Foy | |
Independent Spirit Awards 2024 | Bester Film | Nominiert | Graham Broadbent, Pete Czernin, Sarah Harvey |
Beste Regie | Nominiert | Andrew Haigh | |
Beste Hauptrolle | Nominiert | Andrew Scott | |
London Critics’ Circle Film Awards 2024 | Bester Film | Nominiert | k. A. |
Bester britischer Film | Gewonnen | k. A. | |
Bestes Drehbuch | Nominiert | Andrew Haigh | |
Bester Hauptdarsteller | Gewonnen | Andrew Scott | |
Bester britischer Darsteller | Nominiert | Andrew Scott | |
Beste Nebendarstellerin | Nominiert | Claire Foy | |
Bester Nebendarsteller | Nominiert | Paul Mescal | |
Bester britischer Darsteller | Gewonnen | Paul Mescal | |
Beste technische Leistung | Nominiert | Kathleen Crawford | |
Los Angeles Film Critics Association Awards 2023 | Bestes Drehbuch | Gewonnen | Andrew Haigh |
Beste Hauptrolle[Anm 1] | Nominiert | Andrew Scott | |
Bester Schnitt[Anm 2] | Nominiert | Jonathan Alberts | |
Kansas City Film Critics Circle Awards 2024 | Tom Poe Award – Bester LGBT-Film | Gewonnen | k. A. |
Filmfestival von Montclair 2023 | Spezialpreis der Jugendjury – Drehbuch | Gewonnen | Andrew Haigh |
National Board of Review Awards 2023 | Top Ten Independentfilme | Gewonnen | k. A. |
National Society of Film Critics Awards 2024 | Bester Hauptdarsteller | Gewonnen | Andrew Scott |
Online Film Critics Society Awards 2024 | Bester Hauptdarsteller | Nominiert | Andrew Scott |
Satellite Awards 2024 | Bestes adaptiertes Drehbuch | Nominiert | Andrew Haigh |
Bester Hauptdarsteller – Drama | Nominiert | Andrew Scott | |
Toronto Film Critics Association Awards 2023 | Bester Film[Anm 3] | Nominiert | k. A. |
Bestes adaptiertes Drehbuch | Nominiert | Andrew Haigh | |
Bester Hauptdarsteller | Nominiert | Andrew Scott | |
Utah Film Critics Association Awards 2024 | Beste männliche Hauptrolle | Gewonnen | Andrew Scott |
Filmfestival von Valladolid 2023 | Goldenen Ähre – Bester Film | Nominiert | Andrew Haigh |
Regenbogen-Ähre – Bester Film (Sexuelle Vielfalt und Geschlechtsidentität) |
Gewonnen | Andrew Haigh |
Anm: |
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Literatur
- Taichi Yamada: Sommer mit Fremden. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. München : Goldmann, 2007. – ISBN 978-3-442-31092-0.
Weblinks
- All of Us Strangers bei IMDb
- Offizielle Website von Searchlight Pictures (englisch)
- Offizielle deutschsprachige Website von Searchlight Pictures
- All of Us Strangers – Drehbuch zum Film (PDF, englisch)
Einzelnachweise
- Freigabebescheinigung für All of Us Strangers. Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (PDF; Prüfnummer: 252974).
- Alterskennzeichnung für All of Us Strangers. Jugendmedienkommission.
- Daniel Kothenschulte: Fremde in der Nacht. In: Frankfurter Rundschau, 8. Februar 2024, S. 26.
- Arabella Wintermayr: Vom Verbindenden im Fremdsein. In: die tageszeitung, 8. Februar 2024, S. 15.
- Englischsprachiges Drehbuch. In: deadline.com (PDF-Datei, S. 2; abgerufen am 9. Februar 2024).
- Englischsprachiges Drehbuch. In: deadline.com (PDF-Datei, S. 4; abgerufen am 9. Februar 2024).
- Englischsprachiges Drehbuch. In: deadline.com (PDF-Datei, S. 9; abgerufen am 11. Februar 2024).
- Englischsprachiges Drehbuch. In: deadline.com (PDF-Datei, S. 100; abgerufen am 11. Februar 2024).
- Ijin-tachi to no natsu. In: imdb.com (abgerufen am 15. August 2022).
- Taichi Yamada: Sommer mit Fremden. In: Lausitzer Rundschau, 12. Juni 2007 (abgerufen via lizenzpflichtiger Pressedatenbank Wiso Presse).
- Kira Taszman: All of Us Strangers. In: filmdienst.de (abgerufen am 8. Februar 2024).
- Tobias Kniebe: Tränen im Geisterhaus. In: Süddeutsche Zeitung, 8. Februar 2024, S. 11.
- Davide Abbatescianni: Andrew Haigh’s new feature, Strangers, now in production. In: cineuropa.org, 1. Juli 2022 (abgerufen am 15. August 2022).
- Jordan Ruimy: Andrew Haigh’s ‘Strangers’ Completes Filming. In: worldofreel.com, 14. August 2022 (abgerufen am 14. August 2022).
- Cinematographer Jamie D. Ramsay's Top 5. In: aframe.oscars.org (abgerufen am 10. Februar 2024).
- Samantha Bergeson: Paul Mescal and Andrew Scott Lead Andrew Haigh’s Ghostly Drama ‘All of Us Strangers’ — First Look . In: indiewire.com, 7. August 2023 (abgerufen am 7. August 2023).
- All of Us Strangers. In: synchronkartei.de. Deutsche Synchronkartei, abgerufen am 13. Februar 2024.
- 50. Telluride Film Festival Program Guide. In: telluridecms-production.s3.amazonaws.com (abgerufen am 1. September 2023).
- All of Us Strangers – Informationen zur Veröffentlichung. In: imdb.com (abgerufen am 8. Februar 2024).
- All of Us Strangers. In: 14films.de (abgerufen am 9. Februar 2024).
- All of Us Strangers. In: boxofficemojo.com (abgerufen am 8. Februar 2024).
- All of Us Strangers. In: Metacritic. Abgerufen am 7. Februar 2024 (englisch).
- Jason Dietz: The 25 Best Movies of 2023. In: metacritic.com (abgerufen am 8. Februar 2024).
- All of Us Strangers. In: Rotten Tomatoes. Fandango, abgerufen am 7. Februar 2024 (englisch).
- Best Movies 2023. In: editorial.rottentomatoes.com (abgerufen am 8. Februar 2024).
- Andrew Haigh. In: metacritic.com (abgerufen am 9. Februar 2024).
- Andrew Haigh. In: rottentomatoes.com (abgerufen am 9. Februar 2024).
- Bert Rebhandl: Die Nachbarschaften der Sterblichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Februar 2024, Nr. 32, S. 11.
- Jan Künemund: Der schwule Liebesfilm „All Of Us Strangers“. In: Der Tagesspiegel, 5. Februar 2024, S. 19.
- Daniel Haas: «All of us strangers»: eine der zartesten Liebesgeschichten des neueren Kinos. Andrew Haighs phantastisches Drama schickt einen schwulen Mann auf eine Zeit- und Erinnerungsreise zu seinen verstorbenen Eltern. (Artikeltitel der Online-Version). In: Neue Zürcher Zeitung, 14. Februar 2024.
- Valerie Dirk: Geliebte Gespenster. In: Der Standard, 8. Februar 2024, S. 20.
- All of Us Strangers. In: imdb.com (abgerufen am 7. Februar 2024).
- Nominations Announced for the Critics Choice Association’s 4th Annual “Critics Choice Super Awards” Honoring Superhero, Science Fiction/Fantasy, Horror, and Action Movies and Series In: criticschoice.com am 7. März 2024, abgerufen am 9. März 2024.