Acanthocystis

Acanthocystis[7] ist eine von Carter 1863 erstbeschriebene Gattung in der Familie Acanthocystidae.[1][8][2][9] Die Gattung Acanthocystis umfasst einzellige, frei schwimmende planktonische oder benthische Organismen, die im Süßwasser weit verbreitet sind, aber auch seltener in marinen Lebensräumen vorkommen.[3] Die genaue taxonomische Stellung dieser Familie ist noch in der Diskussion (Stand Januar 2022), meist werden sie aber als Mitglied der Gruppe der Hacrobia[1][8] und damit der Chromista gesehen.[1][8][2]

Acanthocystis[1]

Acanthocycstis sp.

Systematik
Reich: Chromista
Unterreich: Hacrobia
Klasse: Centrohelea
Ordnung: Centrohelida
Familie: Acanthocystidae
Gattung: Acanthocystis[1]
Wissenschaftlicher Name
Acanthocystis[1]
Carter, 1863[2][3]
A. turfacea mit symbiotischen Chlorella-Zellen.
Doppelt begeißelte Flagellula (Zoospore) von A. aculeata.
a: Zellkern.[4][5][6]

Über die genannte Unsicherheit der Zuordnung hinaus gibt es noch eine weitere taxonomische Komplikation, da der Gattungsname Acanthocystis insgesamt gleich dreimal vergeben wurde:

  • zuerst (und damit gültig) für die hier beschriebene Protisten-Gattung Acanthocystis Carter, 1863 innerhalb der Chromista;
  • später als Acanthocystis Bather, 1889 für eine Gattung von Stachelhäutern (Echinodermata), also Tiere;[2]
  • und schließlich für die Gattungsbezeichnung des Gelbstieligen Muschelseitlings (ursprünglich Acanthocystis serotinus, aktuell Panellus serotinus), Basidiomycota-Pilze aus der Familie Pleurotaceae.[2][10][11]

Im folgenden Text wird ausschließlich Bezug genommen auf die erstgenannte Protisten-Gattung Acanthocystis.

Typusart dieser Gattung ist Acanthocystis turfacea Carter, 1863[3]

Die Organismen der Gattung sind kugelförmige Einzeller, deren „hervorstechendstes“ Merkmal drei unterschiedliche, jeweils in allen drei Dimensionen radial abstehende Strukturen sind: lange und kurze glasartige (kieselhaltige) Stacheln (Spiculen, lat. Spicula, en. siliceous spicules) und länglichen Scheinfüßchen (Pseudopodien), hier deswegen auch Axopodien genannt. Die Spicula sind an ihren Spitzen (d. h. distal) gegabelt.[12]

Von besonderer Bedeutung sind die in Acanthocystis enthaltenen Zoochlorellen,[12] früher wegen des in diesen enthaltenen Chlorophylls phänomenologisch auch Chlorophyll-Körper oder -Körperchen (en. chlorophyll corpuscles) genannt (siehe Abb.)

Etymologie

Der erste Namensteil acantho- bedeutet „dornig“, „stachelig“ (genauer lateinisch acanthus, altgriechisch ἀκή akḗ, deutsch Dorn + ἄνθος ánthos, deutsch Blume). Der zweite Namenstein -cystis ist Neulateinisch von κύστις kústis, deutsch Blase, ‚Beutel‘, ‚Säckchen‘ (ohne Öffnung). Der Name bedeutet also etwa „Stachelsäckchen“ oder „Dornensäckchen“.[13][14]

Beschreibung

Die Gattung Acanthocystis ist weit verbreitet und kommt die häufig in Süßwasser vor, einige Mitglieder sind aber auch in mariner Umgebung zu finden – im Plankton und auf/über dem Meeresboden (Benthos). Die Gattung wurde von Carter (1863) zusammen mit der Beschreibung ihrer Typusart, A. turfacea aufgestellt.[3]

Penard charakterisierte die Gattung 1904 als Heliozoen mit tangentialen Plattenschuppen (englisch plate-scales) und radialen Stachelschuppen (en. spine-scales).[3][12] Die Organismen sind kugelförmige Einzeller, und über die ganze Oberfläche mit den kieseligen (kieselhaltigen) Plattenschuppen bedeckt. Diese kommen im Wesentlichen in zwei Typen vor und bilden einen mehr oder weniger flexiblen Panzer (Periplast); es fehlt dagegen eine ausgeprägte Gelatine- oder Schleimhülle.[3] Das „hervorstechendste“ Merkmal dieser Gattung sind aber verschiedenartige, in allen drei Dimensionen radial abstehende Strukturen. Von diesen gibt es die drei folgenden Typen: lange und kurze kieselige Stacheln (Stachelschuppen oder Spiculen, lateinisch Spicula, englisch siliceous spicules), sowie längliche Scheinfüßchen (Pseudopodien), hier auch Axopodien genannt. Die Spiculen sind an ihren Spitzen (d. h. distal) gegabelt.[12]

Die Axopodien gehen vom sog. Zentroplasten im Zentrum der Zelle aus, weshalb der Zellkern selbst exzentrisch gelegen ist. Die Morphologie der Schuppen bzw. Spicula ist offenbar konstant innerhalb einer jeden Art und wird daher oft neben der Morphologie der Zellen selbst zur Unterscheidung der Arten herangezogen. Die Feinstruktur der Schuppen liegt größtenteils jenseits des Auflösungsvermögens von Lichtmikroskopen; auch war lange Zeit die innere Zellstruktur der meisten Spezies von Acanthocystis und verwandter Einzeller weitgehend unbekannt, bis auf A. turfacea, A. aculeata, A. erinaceoides (jetzt Raineriophrys erinaceoides)[15][16] und wenige andere. Die Klassifizierung anhand dieses Merkmals war daher früher nur ungenau möglich.[3]

Forschungsgeschichte

Bis 1960 ging man davon aus, dass alle Mitglieder der Gattung Acanthocystis Stachelschuppen mit einem zylindrischen Schaft tragen, der in der Mitte einer kreisförmigen Basalplatte befestigt ist. Petersen und Hansen beschrieben jedoch 1960 zwei Arten (A. perpusilla und A. erinaceoides) mit andersartigen Stachelschuppen. A. perpusilla hat Stachelschuppen mit einer exzentrisch angeordneten eingeschnittenen Basalplatte. A. erinaceoides (jetzt Raineriophrys erinaceoides)[15][16] hat Stachelschuppen mit einer membranartigen Basis oder zwei seitlichen, spitz zulaufenden Flügeln, ohne Basalplatte. Spätere elektronenmikroskopische Untersuchungen (1981–1987) konnten die Existenz verschiedener Typen von Stachelschuppen innerhalb der Gattung hinreichend bestätigen. Alle Arten haben eine ziemlich einheitliche Struktur der Plattenschuppen, unterscheiden sich aber stark in Form und Struktur der Stachelschuppen.

Die meisten dieser Gattung bis dato zugeordneten Arten trugen Stachelschuppen mit einer membranartigen Basis (en. membranous base) aus einer mehr oder weniger exzentrisch angebrachten eingeschnittenen Basalplatte. Diese Arten fallen jedoch nicht unter den Namen Acanthocystis in seiner ursprünglichen Bedeutung, da Carter 1893 die Stachelschuppen der Typusart als „gerade, hohl, von gleichmäßiger Breite im Schaft, gegabelt oder gegabelt am distalen und scheibenförmig am proximalen Ende“ beschrieb. Die Gattung Acanthocystis mit ca. 46 zugeordneten Spezies erwies sich daher eher als eine polymorphe denn eine taxonomische Gruppe, und eine Revision angebracht (1981–1987). Ein Vorschlag lautet, die Gattung Acanthocystis wird für Arten mit Stachelschuppen mit einer scheibenförmigen, radialsymmetrischen Basalplatte beizubehalten. Arten mit Stachelschuppen an beidseitig symmetrischer Basis sollen danach in die neu charakterisierten Gattungen Choanocystis[17][18][19][20] und Pterocystis[21][22][23] verschoben werden.[3][24] Dieser Vorschlag wurde bisher jedoch (noch) nichtallgemein akzeptiert, beispielsweise ist im World Register of Marine Species (WoRMS) die Spezies aculeata gleich zweimal (als „unreviewed“) gelistet:

  • A. aculeata Hertwig & Lesser, 1874[8]
  • Choanocystis aculeata (Hertwig & Lesser) Roijackers & Siemensma, 1988[18]

Ein weiterer Vorschlag zur Reklassifizierung zielt in die Gattung Raineriophrys:

  • A. erinaceoides Petersen & Hansen, 1960 (syn. A. erinaceus Wailes, 1921)Raineriophrys erinaceoides (Petersen & Hansen, 1960) Mikrjukov, 2001[15][16][25]

Eine überarbeitete Version dieser Vorschläge findet ich bei Thomas Cavalier-Smith und Sophie von der Heyden (2007).[26]

Systematik

Äußere Systematik

Auch die für die Reklassifizierungen vorgeschlagenen Zielgattungen Choanocystis, Pterocystis und Raineriophrys werden gewöhnlich als Mitglieder der Centroplasthelida bzw. Centrohelida gesehen, so bei NCBI, WoRMS und der Global Biodiversity Information Facility (GBIF – hier mit Korrektur zu Pterocystis gemäß Erstbeschreibung der Spezies: „Centroplasthelida“ anstelle von „Animalia“.[28][29][30]).

Arten

In die hier angegebene Artenliste (mit Stand 12. Januar 2022) sind Informationen aus folgenden Quellen eingeflossen:

N – NCBI, USA[9]
J – NIES, Japan[3] (nur Auswahl)
S – Scott (2005)[1]
W – WoRMS[8]

Gattung Acanthocystis Carter, 1863. Arten:

  • A. aculeata Hertwig & Lesser, 1874 bzw. Hert. Less. (J,S,W:Choanocystis?)[27] – Synonyme: A. flava Greeff, 1875; A. serrata Nicholls, 1983 (J)
  • A. amura Zlatogursky, Gerasimova & Plotnikov, 2016 (N)[33][34]
  • A. costata Zlatogursky, 2014 (N)[35][36]
  • A. nichollsi Siemensma & Roijackers, 1988 (J,N)[37]
  • A. paliformis Dürrschmidt, 1987 (J,S,W)
  • A. pelagica Ostenfeld, 1904 (J,S,W)
  • A. penardi Wailes, 1925 (J)
  • A. perpusilla Petersen & Hansen, 1960 (J,S,W)
  • A. spinifera Greeff, 1869 bzw. Greeff, 1869 emend. Penard bzw. Greeff, 1869 emend. Siemensma & Roijackers, 1988 (J,N)[38]
  • A. takahashii Dürrschmidt, 1987 (N)[39] bzw. Durrschmidt, 1987 (J)
  • A. turfacea Carter, 1863 (J,S,N,W)[40] – Typusart; Synonyme: A. chaetophora Leidy, 1879; A. pallida Greeff, 1869; A. viridis Grenacher, 1869; Actinophrys viridis Ehrenberg (J)

Vorgeschlagene Mitglieder mit vorläufigen Namen:

  • A. sp. FB-2015 (N)
  • A. sp. Hinksey Lake (N)
  • A. sp. NZ1 (N)
  • A. sp. NZ2 (N)
  • A. sp. Oxford1 (N)[26]
  • A. sp. Oxford2 (N)[26]
  • A. sp. Oxford3 (N)[26]
  • A. sp. Oxford4 (N)[26]
  • A. sp. Oxford5 (N)[26]
  • A. sp. Oxford6 (N)[26]
  • A. sp. Oxford7 (N)[26]
  • A. sp. Oxford8 (N)[26]

Umbenennungen im Artepitheton:

  • A. spinifera Penard, 1904A. penardi Wailes, 1925 (Doppelvergabe)

Einzelnachweise

  1. Fiona J. Scott, Harvey J. Marchant: Protista Incertae Sedis. In: F. J. Scott; H. J. Marchant (Hrsg.): Antarctic marine protists (Memento des Originals vom 12. Januar 2022 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/birds.chinare.org.cn. Australian Biological Resources Study, Canberra, 2005, ISBN 0-642-56835-9, S. 449—469 von 563 Seiten. Content & Abstract.
  2. GBIF-Suche Acanthocystis
  3. NIES: Acanthocystis, The World of Protozoa, Rotifera, Nematoda and Oligochaeta
  4. Flagellata - Encyclopedia, ITA, Stand: 29. September 2018.
  5. Encyclopædia Britannica: Heliozoa, 1911 (englisch)
  6. flagellula = zoospore, Almaany Dictionary
  7. OneZoom: Acanthocystis
  8. WoRMS: Acanthocystis
  9. NCBI: Acanthocystis, Acanthocystis (genus), graphisch: Acanthocystis, auf: Lifemap NCBI Version.
  10. Gelbstieliger Muschelseitling, Panellus serotinus, auf pilzwelten.de
  11. Panellus serotinus, auf mycopedia.ch
  12. George P. Sartiano: Acanthocystis labeled Picture1.1, 8. August 2010
  13. cyst, Farlex Free Dictionary.
  14. cyst (Wiktionary)
  15. NIES: Acanthocystis erinaceoides Petersen & Hansen, 1960, The World of Protozoa, Rotifera, Nematoda and Oligochaeta
  16. Microworld: Raineriophrys erinaceoides (Petersen & Hansen, 1960) Mikrjukov, 2001
  17. NCBI: Choanocystis, Choanocystis (genus), graphisch: Choanocystis, auf: Lifemap NCBI Version.
  18. WoRMS: Choanocystis
  19. GBIF-Suche Choanocystis; GBIF: Choanocystis sowie GBIF: Choanocystis Penard, 1904
  20. OneZoom: Choanocystis
  21. NCBI: Pterocystis, Pterocystis (genus), graphisch: Pterocystis, auf: Lifemap NCBI Version.
  22. GBIF: und Spezies Pterocystis Siemensma & Roijackers, 1988
  23. OneZoom: Pterocystis
  24. Daniel E. Wujek, Paul R. Elsner: Pterocystis ebelii, A New Species of Heliozoa from India. In: Transactions of the American Microscopical Society, Band 111, Nr. 2, April 1992, S. 143–148. doi:10.2307/3226670, JSTOR:3226670.
  25. NCBI: Raineriophrys erinaceoides (species)
  26. Thomas Cavalier-Smith, Sophie von der Heyden: Molecular phylogeny, scale evolution and taxonomy of centrohelid heliozoa. In: Molecular Phylogenetics and Evolution, Band 44, Nr. 3, September 2007, S. 1186-1203; doi:10.1016/j.ympev.2007.04.019, PMID 17588778, Epub 10. Mai 2007.
  27. Sonnentierchen, Lexikon der Biologie auf spektrum.de.
  28. Kristina I. Prokina, D. A. Philippov: Centrohelid heliozoans (Haptista: Centroplasthelida) from mires in the North Caucasus, Russia. In: Mires and Peat, Band 24, Nr. 36, 2019, S. 1–20; doi:10.19189/MaP.2019.OMB.StA.1806.
  29. Kristina I. Prokina, D. G. Zagumyonnyi, Alexander P. Mylnikov: Marine Centrohelid Heliozoans (Centroplasthelida Febvre-Chevalier et Febvre, 1984) From Bays of Sevastopol (the Black Sea Shore). In: Russian Journal of Marine Biology, Band 45, Nr. 9, September 2019, S. 377–384; doi:10.1134/S1063074019050092, ResearchGate.
  30. Kristina I. Prokina, L. V. Radaykina, Alexander P. Mylnikov: Centrohelid Heliozoans (Centroplasthelida Febvre-Chevalier et Febvre 1984) from Vietnam. In: Biology bulletin of the Russian Academy of Sciences, Band 47, Nr. 7, S. 735–746; doi:10.1134/S1062359020070158, EBSCO.
  31. Heliozoa, Lexikon der Biologie auf spektrum.de.
  32. Actinopodea, Lexikon der Biologie auf spektrum.de.
  33. Vasily V. Zlatogursky, Elena A. Gerasimova, Andrey O. Plotnikov: A New Species of Centrohelid Heliozoan Acanthocystis amura n. sp. Isolated From Two Remote Locations in Russia. In: Eukaryotic Microbiology, Band 64, Nr. 4, Juli/August 2017, S. 434–439; doi:10.1111/jeu.12378, Epub 20. Oktober 2016.
  34. Microworld: Acanthocystis amura Zlatogursky, Gerasimova et Plotnikov, 2016
  35. Vasily V. Zlatogursky: Two New Species of Centrohelid Heliozoans: Acanthocystis costata sp. nov. and Choanocystis symna sp. nov.. In: Acta Protozoologica, Band 53, Nr. 4, 2014, S. 313—324; doi:10.4467/16890027AP.14.021.1776, Epub 19. September 2014.
  36. Microworld: Acanthocystis costata Zlatogursky, 2014
  37. Acanthocystis nichollsi Siemensma and Roijackers, 1988, auf arcella.nl
  38. Acanthocystis spinifera Greeff, 1869 emend. Siemensma & Roijackers, 1988, auf arcella.nl
  39. Acanthocystis takahashii Dürrschmidt, 1987, auf arcella.nl
  40. Microworld: Acanthocystis turfacea Carter, 1863, auf arcella.nl
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